Briefe und Petitionen in der Zeit der beginnenden und konsolidierten „Normalisierung“ (1968–1977)

Pavel Keřkovský

Briefe von Einzelpersonen, die Charta 77, die Petition der Einunddreißig, die Erklärung der Fünf und das Manifest der jungen Generation

Der Untertitel deutet bereits darauf hin, dass sich die kirchliche Debatte über das Leben der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB) in der Zeit der beginnenden (1969–1972) und konsolidierten „Normalisierung“ (1972–1977)[1] auf die Rolle des Rechts in Kirche und Gesellschaft konzentrierte und somit auch auf die Frage, in welchem Maße sich die Gläubigen am gesellschaftlichen Ringen um Gerechtigkeit beteiligen sollten. Es ging um christliche Spiritualität und gesellschaftliche Verantwortung. Die Gläubigen mussten Antwort auf mehrere Fragen finden: Zu welchen Standpunkten gelangt ein „vom Evangelium sensibilisiertes Gewissen“? Wo liegen die Schnittpunkte zwischen den gesellschaftlichen Koordinaten und dem Evangelium? Welche Stellung sollten die Kirche und die einzelnen Gläubigen in der Gesellschaft einnehmen? Worauf haben die Gläubigen in einer atheistischen Gesellschaft, wo der Atheismus die einzige legitime „Religion“ ist, Anspruch? Welche Mittel sind zur Ermöglichung eines würdigen religiösen und gesellschaftlichen Lebens der Gläubigen legitim? Ist es eine Bürgerpflicht, zu den Wahlen zu gehen, gegebenenfalls den Grundwehrdienst abzuleisten?

Alle, die sich aus der EKBB an der kirchlich-gesellschaftlichen Debatte beteiligten, stützten sich auf die Botschaft der Evangelien. Sie unterschieden sich lediglich in ihrer Einschätzung, welche konkreten Instrumente eingesetzt werden können, um die Wahrhaftigkeit der neutestamentlichen Botschaft zu bewahren. Die „Normalisierung“ der Kirche konnte der Staatsapparat erst nach der Konsolidierung der Regierungsinstitutionen und der Partei in Angriff nehmen. Erst danach kamen Presse, Rundfunk und Fernsehen, dann kulturelle, schulische und bürgerschaftliche Aktivitäten und erst am Ende auch die Kirche an die Reihe. Der Beginn der „Normalisierung“ wurde von der Kirche selbst durch den Brief des Synodalrats vom 11. 2. 1972 eingeleitet. Zur Stabilisierung der „Normalisierung“ in der Kirche kam es in dem Augenblick, von dem an ein wesentlicher Teil der Kirche erklärte, mit Petitionen setze man der Obrigkeit unnötig eine Laus in den Pelz, es handele sich also um ungehörige Provokationen, was zudem einzelnen Protestanten und evangelischen Bewegungen nicht zustehe, denn in dieser Sphäre verfügten angeblich allein die Repräsentanten der Kirche, d. h. der Synodalrat, über legitime Kompetenzen. Die Verfechter von Petitionen als juristisches Mittel, also die Anhänger einer reformatorisch fundierten Strategie, lehnten die Verkündigung des „reinen Evangeliums“ ohne Berücksichtigung der gesellschaftlichen Problematik, insbesondere der Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft, gänzlich ab. Nach Ansicht der Autoren der Briefe und Petitionen unterliegen auch die Regierungsstrukturen Recht und Gerechtigkeit, und auch die Angestellten der staatlichen Verwaltung müssen in Demokratie geschult werden und dürfen das Recht nicht eigennützig missbrauchen, wie Ladislav Hejdánek mit Bezug auf Karel Havlíček Borovský und T. G. Masaryk anmahnte.

Einen sachlichen Blick auf die Rolle des Rechts und die Rolle der Gläubigen in der Gesellschaft gestatten dem Leser wohl am ehesten die 1968 veröffentlichten „Grundsätze der EKBB“, die von der XIV. Synode (1966) verabschiedet worden waren: „Da für den Christen das Recht ein Zeichen der göttlichen Fürsorge für den Menschen und damit mehr als nur eine menschliche Vereinbarung ist, hat es ihm gegenüber immer eine doppelte Aufgabe. Auf der einen Seite geht es darum, das rechtliche Gewissen, d. h. das Bewusstsein von Recht und Gerechtigkeit, zu stärken und die rechtliche Ordnung vor der Willkür sowohl der gesellschaftlichen Führer als auch des einzelnen Bürgers zu schützen. In der Gesellschaft muss das Vertrauen vorherrschen, dass jeder Gerechtigkeit erlangen kann. Andererseits muss der Mensch vor der Härte des Gesetzesbuchstabens, der die Lebensumstände außer Acht lässt, geschützt werden. Das Verhältnis des Christen zum Recht bewegt sich zwischen diesen beiden Brennpunkten. Er trägt eine größere Verantwortung für die Lauterkeit der Rechtsordnung und für die Wiederherstellung der Gerechtigkeit in der Gesellschaft als andere Bürger. In seinen gesellschaftlichen Funktionen setzt er sich dafür ein, das Recht und die Gerechtigkeit für jedermann zu vervollkommnen. Seine Kompetenzen setzt er aber so ein, dass keine gewaltsame Verletzung der Rechtsordnung durch einen Aufstand oder eine Revolution herbeigeführt wird. Aber ein sensibles juristisches Gewissen, das beständig durch das Evangelium geläutert wird, lässt auch einen revolutionären Aufstand zu, wenn Recht, Gerechtigkeit und Menschlichkeit dauerhaft durch die Selbstsucht und Tyrannei unverbesserlicher Herrscher verletzt werden.“

Die Wiederherstellung der Ordnung durch die „Normalisierer“

Die „Goldenen Sechziger“ endeten nicht mit einem „Happy End“, sondern mit der Besetzung des Landes. Die Truppen des Warschauer Pakts unter Führung der Sowjetunion (Russlands) überfielen am 21. August 1968 die Tschechoslowakei und beendeten das politische Experiment des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Der Versuch, den Staatsapparat zu reformieren, wurde nach einer mehrere Monate andauernden hoffnungsvollen Entwicklung mit Macht erstickt. Die Besetzung der Tschechoslowakei wurde durch die Moskauer Protokolle besiegelt, denen sich allein František Kriegel widersetzte, der einzige mutige Regierungspolitiker mit echtem Weitblick.

In den Kulturverbänden und Redaktionen, religiösen Gemeinschaften und Gesellschaften, in denen viele schon einige Jahre zuvor neuen Schwung und eine neue Richtung aufgenommen hatten, trat nach dem August keine allgemeine Resignation ein. Die kulturellen und religiösen Protagonisten entwickelten weiter, was einige schon seit dem Beginn der sechziger Jahre aufgebaut hatten. Insbesondere ab der Mitte der sechziger Jahre erschienen interessante literarische Werke aus dem In- und Ausland. Einige Journalisten und Schriftsteller befreiten sich aus dem engen Korsett der marxistischen Ideologie. Auch einige Marxisten ließen sich von der existenzialistischen Philosophie inspirieren und ihre gesellschaftlichen Analysen gewannen eine persönlich-moralische Dimension und existenzielle Tiefe.

Die evangelische Kirche der Böhmischen Brüder begann, an ihrer Identität zu arbeiten. Ab 1963 wurden die Grundsätze der EKBB überdacht. Eine achtköpfige Kommission griff reformatorische und neuzeitliche Themen kritisch auf und konfrontierte sie mit der biblischen Botschaft. Ihre Ergebnisse interpretierte sie in der zivilen Sprache des modernen Menschen. Daher bieten die Grundsätze der EKBB einen kritischen Zugang zu allen zivilisatorischen Phänomenen jener Zeit. Die Autoren traten in einen Diskurs über die grundlegenden religiösen, staatlichadministrativen, kulturellen und wirtschaftlichen Prinzipien ein und boten tragfähige Lösungen, Richtmarken an – die Thora.

Das kulturelle Geschehen gewann an Tiefe. Die Filmregisseure gewannen Oscars und andere bedeutende Preise. Säkulare Musikensembles eroberten die europäische Kulturszene. Dennoch handelte es sich auch für die kulturellen und religiösen Gesellschaften, einschließlich Hochschulen, um einen relativ kurzen Zeitraum – kurz, denn dem Schriftstellerverband, den Filmschaffenden und Dramaturgen, Bildungseinrichtungen, Bibliotheken, Museen und Kirchen blieb nicht einmal genug Zeit, sich zu all ihren stalinistischen Deformationen zu bekennen, schon war das Tauwetter wieder vorüber. Das frostige Klima ging vom Moskauer Kreml aus[2] und der Prager Frühling musste der Erstarrung weichen. Plötzlich bekam selbst ein unschuldiges Lied den Anhauch eines Protestsongs: „Wir hatten den Frühling erwartet, doch es kam der Frost.“ Die evangelischen Christen machten sich mit Spirituals Mut: „We shall overcome… some day. Oh, deep in my heart I do believe...“ Im Februar 1969 wurde die Erklärung „Die Synode ihrem Volk“ verfasst, eine ermutigende Stimme3 kurz nach Palachs aufopferndem Appell,[3] aber zu weiteren Schritten von theologischem Belang konnten auch sie sich nicht aufschwingen.

In der Zwischenzeit waren die Reformkommunisten von prosowjetischen Protagonisten, die erste Maßnahmen zur „Normalisierung“ der Gesellschaft ergriffen, aus ihren Positionen verdrängt worden. Die Phase der innerparteilichen Säuberungen wurde von Gustáv Husák im April 1969 eingeleitet und im Dezember 1971 abgeschlossen. Mit ihrer Hilfe gelang es ihm, einen robusten Parteiapparat zu formieren. Auf diese Weise wurde die Partei von rund einer halben Million Sympathisanten des Erneuerungsprozesses der sechziger Jahre „gesäubert“. Zu den Säuberungen und der langwierigen Krise trugen allerdings auch einige Reformkommunisten bei – beispielsweise Alexander Dubček. Als Vorsitzender der Föderalversammlung unterzeichnete er am 22. August 1969 eine gesetzliche Maßnahme, welche die Bürgerrechte einschränkte, das Strafmaß für zivilen Ungehorsam erhöhte, die es ermöglichte, denjenigen, die die sozialistische Gesellschaftsordnung störten, zu kündigen, Einzelrichter erhielten die Befugnis, die Teilnahme an Demonstrationen mit Geld- und Gefängnisstrafen zu ahnden. 

Nach dem August erhoben insbesondere Studenten und einige Reformkommunisten ihre Stimme. Bald meldeten sich auch die Kirchen – Einzelpersonen und sogar die Institutionen als solche – zu Wort, so die Synode der EKBB (Februar 1969). Aktivisten aus Kultur- und Kirchenkreisen versuchten, das begonnene Werk weiterzuführen. So gab beispielsweise die EKBB bis 1972 die Jugendzeitschrift Bratrstvo (Bruderschaft) heraus. Gleichwohl begann das Regime, hart gegen politische Kritik und politische Aktivitäten vorzugehen. Am ersten Jahrestag des sowjetischen Einmarsches schossen Polizeieinheiten auf die Demonstranten. Die traurige Bilanz waren fünf Tote.

Die Repressionen setzten sich im Dezember 1969 mit der Inhaftierung und Verurteilung der „Bewegung der revolutionären Jugend“ (Hnutí revoluční mládeže) fort, die gegen die unterwürfige Politik der Regierung protestierte (Petr Uhl – vier Jahre, acht weitere Personen wurden zu kürzeren Haftstrafen verurteilt, einschließlich Petruška Šustrová und zwei Ausländer). Die Bewegung hatte wegen der Inhaftierung des Journalisten L. Pachman zu einem Streik aufgerufen.

Im Jahr 1971 schloss sich die Opposition in Brünn und in Prag zur Flugblattaktion „Bürger der Tschechoslowakei!“ zusammen. Die Autoren appellierten an die Bürger, die Feierlichkeiten zum 1. Mai und 7. November (Große sozialistische Oktoberrevolution in Russland 1917) zu boykottieren. Zudem sollten auch Waren, Kultur und Sport der UdSSR boykottiert werden. Vor allem aber sollte vom Recht, nicht zu wählen bzw. zu wählen und die Kandidaten zu streichen, Gebrauch gemacht werden. Die wichtigsten Organisatoren dieser Aktion waren Exkommunisten, der Brünner Reformkommunist Jaroslav Šabata und der Historiker Jan Tesař. Der Aktion schlossen sich unter anderem auch die Mitglieder der evangelischen Kirche Jaromír Dus und Ladislav Hejdánek an.[4] Es wurden zwei verschiedene Anklagepunkte proklamiert: Aufwiegelei und Zersetzung der Republik. Jaromír Dus wurde für Zersetzung der Republik vor Gericht gestellt und zu 15 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Ladislav Hejdánek bekam für Aufwiegelei neun Monate ohne Bewährung. Er füllte in einem halben Jahr Haft mehrere Hefte mit philosophischen Überlegungen, die später als Einführung in das Philosophieren (Úvod do filosofování) erschienen.[5] Die restlichen drei Monate blieben Hejdánek erspart, denn auf ihn bezog sich eine Amnestie des Präsidenten, die aber für Zersetzung der Republik keine Gültigkeit besaß, sodass Dus seine gesamte Strafe verbüßen musste.  

Wegen des Manifestes „Bürger der Tschechoslowakei!“ wurden 140 Bürger inhaftiert. Insgesamt standen 46 Personen vor Gericht (in Prag 19, in Brünn 27 – zusammengenommen wurden sie zu 126 Jahren ohne Bewährung verurteilt). Dem Zentrum der Macht gelang es, die Bevölkerung einzuschüchtern. Die Mehrheit, einschließlich der christlichen Minderheiten, fand sich gehorsam an den Wahlurnen ein und trug so den Erneuerungsprozess und die Zukunft des Volkes endgültig zu Grabe. Die meisten ordneten sich unter, weil sie Angst vor den allgegenwärtigen Repressionen hatten. Auch für „verbale Aktivitäten“, d. h. Beleidigungen und politische Witze, wurde man verurteilt, und das Verständnis für die Brisanz dieser Tatsache ist heute, wie die tschechische Fernsehsendung „Zlatá mříž“ belegt, weitgehend verloren gegangen.

So wurden beispielsweise von Januar bis Mai 1971 wegen Aufwiegelei (§ 100) dreißig Personen strafrechtlich verfolgt, für das vergleichbare Vergehen der Beleidigung (§ 102) insgesamt 12 Personen, wegen Verunglimpfung der Republik und ihrer Vertreter 146 Personen sowie wegen Verunglimpfung der sozialistischen Staaten und ihrer Vertreter 147 Personen. Solche Straftaten wurden in Restaurants, auf Bahnhöfen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, Wartesälen, Verkaufsstellen, in Wohnungen und Betrieben begangen. Jeder konnte jeden an jedem beliebigen Ort wegen beleidigender Aussagen anzeigen.

 Bis 1972 gelang es dem Zentralkomitee der kommunistischen Partei KSČ, die Gesellschaft zu konsolidieren. Nach Aussagen Milan Šimečkas wurde die Ordnung in der politischen Sphäre wiederhergestellt. Die machtpolitischen und ideologisch-medialen Instrumente waren auf die gesamte Gesellschaft ausgerichtet und sie erfüllten ihren Zweck, einschließlich des „vulkanisierten Marxismus“, d. h. des Polizeischlagstocks, wie er in einem Witz jener Zeit genannt wurde. Eine bedrückende Atmosphäre des Misstrauens und der Gleichgültigkeit, oft auch der Verzweiflung begann sich in der tschechoslowakischen Gesellschaft auszubreiten. Die Ausmerzung des Erneuerungsprozesses war gelungen, das sowjetische System der Staatsführung war wiederhergestellt – das Recht und die Gerichte hatten ihre Unabhängigkeit wieder verloren.

Die „Normalisierung“ konsolidiert sich (1972–1977)

Die nächste Phase (1972–1977) kann man historisch als Zeit der Konsolidierung der hergestellten Ordnung bezeichnen. Vom Beginn dieses Zeitabschnitts an ist eine große Zahl an Briefen zu verzeichnen, die an das Machtzentrum des Landes, aber auch an ausländische Regierungen und Konferenzen adressiert waren. Anfangs war dies eine Angelegenheit der Reformkommunisten, angefangen mit Alexander Dubčeks Brief an die Föderalversammlung oder Josef Smrkovskýs Brief an Leonid Breschnew. Später nahmen sich Persönlichkeiten aus dem kulturellen und politischen Leben dieser Aufgabe an – zum Beispiel der Brief Václav Havels an G. Husák, der Brief der Studierenden der Evangelisch-Theologischen ComeniusFakultät vom 28. 2. 1974, der Brief Miloš Rejchrts an die Sicherheitsorgane in Česká Lípa, der Brief Miloš Rejchrts an die XIX. Synode der EKBB, der Brief Karla Trojanovás an Präsident Gustáv Husák und schließlich der Brief von 31 Christen der EKBB – Pfarrern und Laien (7. Mai 1977) – sowie mehrere Dokumente der Charta 77, die Mitglieder der EKBB verfasst oder mitverfasst hatten. Das Dokument der Charta 77 Nr. 9.–22. 4. 1977 beginnt mit einem berühmten Zitat von J. A. Comenius: „Alles geschehe ohne Zwang und Gewalt sei den Dingen fern.“ Es wird darin die Forderung ausgesprochen, dass die gläubigen und ungläubigen Bürger ohne die Befürchtung, bei der Ausübung ihrer Arbeit oder anderswo gemaßregelt zu werden, ihre Ansichten äußern können, auch wenn sich diese von der offiziellen Meinung unterscheiden. Das Dokument spricht die Stellung der Kirche an und fordert, die Staatsmacht solle von unangemessenen Eingriffen in die kirchlichen Verhältnisse Abstand nehmen.

Aus dem Bereich der „Kassiberkultur“ – heimlich aus dem Gefängnis geschmuggelten Briefen – sei an einen Brief politischer Gefangener erinnert, den sie einer mutigen Schweizer Delegierten übermitteln konnten, die dann diesen Gruß der politischen Gefangenen aus einem tschechoslowakischen Gefängnis 1973 beim Friedenskongress in Moskau verlas. Der Brief enthielt die Mahnung, in der ganzen Welt den Frieden zu bewahren und die Menschenrechte einzuhalten. Als bahnbrechend kann man den „Brief der tschechoslowakischen politischen Gefangenen an den Anwaltsverband der ČSSR“ bezeichnen, in dem sie ihre Solidarität mit den Verfolgten in Chile zum Ausdruck brachten, aber gleichzeitig auf genauso repressive Rechtsverstöße in der ČSSR hinwiesen. Diese Initiative führte die Mitglieder verschiedenster Gruppierungen zusammen. Im Grunde begegnete sich hier der Kern der künftigen Charta 77,[6] zu dem auch mehrere Christen gehörten, die die Menschenrechte als legitimen christlichen Beitrag zur euro-amerikanischen Kultur betrachteten, in der die Würde des Menschen, die Freiheit und die Menschenrechte einen grundlegenden und untrennbaren Bestandteil darstellen.

Die Menschenrechte rückten so in den exkommunistischen, philosophischen, kulturellen und religiösen Kreisen mehr und mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit, insbesondere bei denen, die in dieser Zeit bereits auf unterschiedliche Art vom harten Durchgreifen der „Normalisierer“ betroffen waren. Aus diesen Kreisen sprang der Funke des Interesses an den Menschenrechten auf diejenigen über, die sich schon vor 1977 für eine gerechte Gesellschaft eingesetzt hatten, zum Beispiel indem sie an den Prozessen gegen zu Unrecht angeklagte Musiker (Svatopluk Karásek, I. Jirous u. a.) teilnahmen. Gerade sie wurden auf die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen aufmerksam gemacht, die durch den für Oktober geplanten Erlass des Gesetzes Nr. 120/1976 ausgelöst werden könnte, das im Paragraphentext kulturelle und gesellschaftliche Rechte und Freiheiten verkündete. Es war Ladislav Hejdánek, der in seinen Freundeskreisen auf diese vom kommunistischen Verwaltungsapparat geheimgehaltene Tatsache aufmerksam machte, insbesondere unterrichtete er davon die ehemaligen Chefredakteure der Zeitschrift Tvář, die Mitglieder des verbotenen akademischen YMCA und der freien evangelischen Vereinigung Neue Orientierung (Nová orientace) sowie andere Freunde, unter anderem den Tvář-Redakteur Václav Havel und den Philosophen Jan Patočka.[7] Diese Kreise, die bis dahin voneinander isoliert waren, vernetzten sich ab dem Frühjahr 1976 und es kam zu einzelnen Zusammenkünften und ersten Formulierungen der Charta 77. Die oben genannten Tatsachen deuten bereits darauf hin, warum einige evangelische Christen die Charta 77 bereits in der ersten Unterzeichnungswelle unterschrieben haben. Sie gehörten nämlich zu den ersten Kontaktpersonen, an die sich die Autoren des Gründungsdokuments vertrauensvoll gewandt hatten.

Die Charta 77 unterzeichneten auch einige Protagonisten der Vereinigung Neue Orientierung[8] sowie mehrere Pfarrer, die eine Generation jünger waren und das „Manifest der jungen Generation – Die Kinder der Büßer“ an die XX. Synode (20.–22. 10. 1977) sandten.[9] Zur Schnittmenge dieser beiden Gruppen von Gläubigen wurde die „Petition der Einunddreißig“, die am 7. Mai 1977 an die Föderalversammlung geschickt wurde,[10] was trotz des ausdrücklichen Verbots führender Vertreter des Synodalrats der EKBB geschah. Einen ganz besonderen Schlussstrich zog die XX. Synode unter die „Petition der Einunddreißig“, indem sie die Bestrafung der Unterzeichner durch Verwarnungen lediglich zur Kenntnis nahm und sich nicht zum Äußersten treiben ließ – sie schloss niemanden aus der Kirche aus. Es gelang ihr aber nicht, damit in der Kirche eine Atmosphäre der Verständigung herzustellen und dem Umsichgreifen einer misstrauischen Haltung gegenüber der Charta 77 und ihren Unterzeichnern sowie gegenüber den zahlreichen Sympathisanten Einhalt zu gebieten. Die Spaltung der Kirche schritt weiter voran. Einige Kritiker der Petitionsbewegung schämten sich nicht, die Unterzeichner in deren Abwesenheit als Menschen zu bezeichnen, die die Lage der Kirche unnötig verkomplizieren. Beim Besuch einer Bibelstunde für die Jugendkreise zweier Nachbargemeinden erlebte ich, dass der Ortspfarrer die Unterzeichner der Charta als gefährliche Menschen hinstellte, die das geruhsame Leben der Kirche stören und die Kirche nicht mögen. Plötzlich gab es innerhalb der Kirche Rechtgläubige und Kirchenfeinde. Schuld an der Spaltung hatten nicht die Chartisten, sondern diejenigen, die Misstrauen säten und andere anschwärzten.  

Die „Normalisierung“ der EKBB

Ab einem bestimmten Punkt begann die EKBB, nach Lücken im Normalisierungskorsett zu suchen, und sie entwickelte Überlebensstrategien. Der Synodalrat sandte am 11. Februar 1972 einen Brief an alle Gemeinden, der einen Rückzug von den Positionen einleitete, die im Aufruf „Die Synode ihrem Volk“ deklariert worden waren. Der Brief rief dazu auf, denen, die sich um zivile Verantwortung bemüht hatten, die Solidarität zu verweigern (es ging um J. Dus und L. Hejdánek). Der Brief war das Ergebnis des starken Drucks vonseiten des Kulturministeriums (Sekretariat für Kirchenfragen) auf führende Vertreter der EKBB – Václav Kejř und František Škarvan. Auch das theologische Beratungsgremium des Synodalrats verfasste 1973 ein Elaborat mit dem Titel „Der Auftrag der Kirche in der Gegenwart“, das bereits auf die neue Strategie des Staates nach dem Dezember 1971 reagierte. Durch dieses Elaborat wurden die Bedingungen für die Konsolidierung der „Normalisierung“ innerhalb der Kirche geschaffen. Eine Fortsetzung dieser Linie ist der repräsentative Sammelband Über die Gemeinschaft des Dienstes (O společenství služby). Vom entgegengesetzten Standpunkt her wird die Problematik von den Autoren des Sammelbandes Ein unüberhörbarer Appell (Nepřeslechnutelná výzva) betrachtet, der noch in der Zeit der Normalisierung vorbereitet wurde, aber erst kurz nach dem November 1989 herausgegeben werden konnte, denn die Publikationsmöglichkeiten derer, die im Selbstverlag veröffentlichten, waren nun einmal sehr begrenzt.

Die Kirchen in der Tschechoslowakei sollten sich dem Taktstock der „Normalisierer“ beugen. Die Partituren erhielten die Kirchenleitungen von den Vertretern des Kulturministeriums, denen bewusst war, dass sie nicht von oben anordnen konnten, was wann gespielt werden sollte – das hätte die internationale Öffentlichkeit registriert und sie hätte die Tschechoslowakei nicht mehr zu den demokratischen Ländern gezählt. Deshalb begrüßten sie auch, dass die internationale Gemeinschaft in Helsinki (1975) schweigend die Legitimität der Regierung der besetzten Tschechoslowakei anerkannte, freilich unter der Bedingung, dass die Regierung den sog. Dritten Korb – also die Menschen- und Bürgerrechte – respektierte. Die Ministerialverwaltung konnte der Synode keine jubelnden sozialistischen Aufbaulieder, keine Loblieder auf die Friedenspolitik des Sowjetblocks und die Hilfe der Bruderländer, also auf die Besetzung des Landes, unterbreiten. Die Führung wusste nur allzu gut, dass sie durch die presbyterial-synodalen Prinzipien daran gehindert wurde (diese Erfahrung hatte sie bereits in den 50er Jahren gemacht und auch damals hatte sie eine Weile gebraucht, bis sie sich die Kirche gefügig gemacht hatte – 1953 war die EKBB für eine volksdemokratische Ausrichtung des Landes gewesen, nun für eine sozialistische Ausrichtung nach sowjetischer Lesart). Sie wusste, dass es auf das gesamte Orchester ankam, dass es aber auch möglich war, über die Solisten, die erste Geige und die anderen Stimmführer am Ende ihre eigenen Ziele zu erreichen. Sie hatte noch einen Vorteil: Weder das Orchester noch das Publikum auf den Rängen ahnten, dass zum Beispiel einige wichtige Partituren, die bei den Synoden besprochen wurden, wie die Erklärungen der Synoden, bereits vorverhandelt waren. Die Grundzüge, Grundmotive und sogar viele Formulierungen beruhten auf Vorschlägen des Ministeriums, andere unterlagen den zahlreichen Streichungen der Ministerialbeamten. Zugunsten der Synoden ist allerdings zu sagen, dass sie sehr häufig abänderten, was von der Staatsführung verordnet worden war.

An erster Stelle musste die Erklärung „Die Synode ihrem Volk“ annulliert werden, die eine Reform von Kirche und Gesellschaft anregte, die „Hilfe der Bruderstaaten“ als Okkupation bezeichnete und zu Dialog und Umkehr aufrief. Im Frühjahr 1969 heftete Jan Z. Dus die Erklärung „Die Synode ihrem Volk“ an den Aushang der Gemeinde Libiš. Im Jahr 1971 wurde ihm der Prozess gemacht, doch noch vor Prozessbeginn wurde ihm grundlos die staatliche Genehmigung für den geistlichen Dienst entzogen. Er wurde zu zwölf Monaten Freiheitsstrafe mit drei Jahren Bewährung verurteilt. Dus ging also nicht ins Gefängnis, war aber für schuldig befunden worden und durfte nicht länger den Predigtdienst versehen. So arbeitete er in einer Ziegelei und später als Lagerarbeiter. Er wurde für ein offizielles Dokument der Synode verurteilt und weder die Kirchenleitung noch das Präsidium der Synode setzten sich für ihn ein. Der evangelische Prediger Jan Zeno Dus wurde exemplarisch für das mutige Beharren auf der Bekenntnislinie früherer Synoden verurteilt. Die Ministerialverwaltung erreichte, was die führenden Ideologen von ihr verlangten – dass die Gläubigen ernsthafte „Lehren aus der krisenhaften Entwicklung“ zogen. Die Desolidarisierung der Kirchenleitung trug so zur Konsolidierung einer Atmosphäre der Angst in Kirche und Gesellschaft bei. Die Staatsbehörde testete aus, ob es möglich wäre, der Kirchenleitung und der ganzen Kirche Stillschweigen und Fügsamkeit aufzuzwingen. (Im Jahr 1977 sollte der Staatsführung dann bloßes Stillschweigen nicht mehr genügen und sie sollte die Kirche zu öffentlichen Erklärungen zwingen. Der Druck vonseiten des Staates wuchs.) Nach dem Prozess gegen J. Z. Dus konnte der Machtapparat die Reihen der Widerstand leistenden Pfarrer systematisch weiter schwächen, indem sie Pfarrern im aktiven Dienst in folgender Reihenfolge die Genehmigung entzog: Jan Zeno Dus, Miloš Rejchrt, Vlastimil Sláma, Jan Šimsa, Jiří Veber, J. S. Trojan, Alfréd Kocáb, Milan Balabán und Svatopluk Karásek. Zudem wurde der Berufsverband der Geistlichen der EKBB (SČED) aufgelöst und sein Vorsitzender Vlastimil Sláma inhaftiert. 

 Die Aufsicht über die Kirchen war gesetzlich festgeschrieben und wurde von der Staatsführung nach 1969 wieder zu Ungunsten der Kirche ausgelegt. Sie beobachtete den Alltag der Gläubigen und Pfarrer und suchte nach Wegen, wie man sie einschüchtern und die Freiheit der Pfarrer und so auch die Freiheit der Gläubigen in den einzelnen Gemeinden einschränken könnte.

 Die „junge Generation“ 

Jan Z. Dus blieb trotz seiner Bewährungsstrafe der einmal erkannten Wahrheit treu und auch andere beschritten diesen Weg. Mit dem Beginn der „Normalisierung“ entstanden in den Kreisen katholischer Intellektueller (Ivan Jirous, Jiří Němec), evangelischer Intellektueller und Musiker (Svatopluk Karásek) sowie von ExMarxisten und Christen unterschiedlicher Konfessionen (L. Vaculík, I. Klíma, Milan Machovec u. a., die schon seit den sechziger Jahren über Jan Šimsa oder später über Jan und Pavel Kašpar u. a. Verbindungen zu religiösen Gemeinschaften hatten) kleine Inseln der alternativen Kulturszene. Evangelische Vikare und Pfarrer schufen sich ihr eigenes „postgraduales Studium“, Zusammenkünfte, die unter dem Schlagwort „Libštát“ veranstaltet wurden. In Brno, Ostrava und Prag fanden regelmäßig sog. Wohnungsseminare statt, es gab private Schulungen für Theologen und Bibelstunden für die Allgemeinheit (Milan Mrázek, Brno), es gab die Wohnungsseminare Brno (M-Klub: Jiří Müller, Jaroslav Mezník, Milan Jelínek, Božena Komárková), die Brünner Vorlesungen mit Gästen (P. Oslzlý), die Wohnungsseminare Prag (Julius Tomin, Ladislav Hejdánek, Milan Balabán, Jakub S. Trojan) sowie die Wohnungsseminare der Katholiken in Pfarrhäusern in der gesamten Tschechoslowakei (Josef Zvěřina reiste auch in die Slowakei, und in Ostböhmen waren ihm Protestanten unter seinen Zuhörern ebenfalls willkommen, wovon auch ich persönlich profitierte). Zudem wurden zahlreiche andere kurzfristige Kurse und Sommerurlaube mit Bildungsprogramm veranstaltet. Es fanden Lesungen, geheime Ausstellungen und Konzerte der alternativen

Kulturszene statt. Viele Aktivitäten entstanden schon, bevor die Charta 77 auf den Plan trat, einige bildeten sich parallel heraus und einige als Folgeinitiativen, angeregt durch die Charta 77.

Der Machtapparat hatte 1975 noch nicht die gesamte EKBB unter völliger Kontrolle und stufte sie nach wie vor als problematischste der protestantischen Kirchen ein, und so versuchte er, die engagierte Gruppe der Jungen – derer, die in den „Goldenen Sechzigern“ studiert hatten und nun in den Gemeinden tätig waren – lahmzulegen. Die „junge Generation“ war für den Staat eine genauso gefährliche Gruppe wie die Mitglieder der „Neuen Orientierung“, die in den 50er Jahren studiert hatten und stark von J. L. Hromádka beeinflusst waren, denn sie führten in den 60er Jahren den Dialog nicht nur mit den Marxisten im eigenen Land und mit den ausländischen Theologen im deutschsprachigen Raum, sondern knüpften auch Kontakte zum amerikanischen Baptistenprediger und Friedensnobelpreisträger M. L. King und anderen bedeutenden Theologen an.

Am 3. Februar 1975 lösten die staatlichen Stellen (der Kirchensekretär auf Kreis- und Bezirksebene im Verbund mit der Polizei) ein freundschaftliches Treffen im Pfarrhaus der EKBB in Libštát auf. Die Vertreter der Staatsmacht drangen in das Pfarrhaus ein und zwangen mit Unterstützung der Polizei (die damals Öffentliche Sicherheit – Veřejná bezpečnost – hieß) die Anwesenden, das Pfarrhaus und das Städtchen Libštát zu verlassen. Dieses beispiellose Einschreiten bei einem privaten Treffen unter Freunden wurde von Miloš Rejchrt dokumentiert, der einen Beschwerdebrief an die Kreisabteilung der staatlichen Sicherheitsorgane (SNB) in Česká Lípa und zur Kenntnisnahme an den Synodalrat der EKBB schickte. Später schrieb er noch einen persönlichen Brief an die XIX. Synode der EKBB (19. 11. 1975). Im Zusammenhang mit dieser Aktion wurde Petr Brodský die staatliche Genehmigung für den Kreis Semily entzogen und ihm wurde empfohlen umzuziehen. Später erhielt er die Möglichkeit, in einer EKBB-Gemeinde in Südmähren zu arbeiten.

Miloš Rejchrt beruft sich in seinem Brief an die Synode auf die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ und auf die Konferenz in Helsinki sowie den „Dritten Korb“, der die kulturellen und bürgerlichen Rechte betraf: „private Zusammenkünfte, das Leben in der Gemeinschaft ist nicht nur unser gesetzliches Recht und integraler Ausdruck des Glaubens ... Das Erleben in der Gemeinschaft gehört zu den Charismata unserer Kirche, es erwächst aus den Wurzeln der böhmischen Reformation und aus dem Leben unserer Kirche in der Gegenwart … ich erwarte, dass auch das Opfer derer, die für ihre Solidarität mit den Zurechtgewiesenen gemaßregelt wurden, von der Kirche als Ausdruck der Lebendigkeit des Leibes Christi freudig angenommen wird. Ich freue mich, dass die Synode zu Fürbitten für die aufruft, die an den Rand des Rechts gedrängt wurden, und für die, die ihnen ihre Tür nicht verschließen.“ Miloš Rejchrt argumentiert hier – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der EKBB – mit den Grundsätzen der EKBB, die in der Amtskirche in Vergessenheit geraten waren und von denen man offiziell keinen Gebrauch machte.

Die junge Generation hielt die theologische Kontinuität mit den Ansichten einiger Theologen der „Goldenen Sechziger“ aufrecht, insbesondere mit den Autoren der Grundsätze der EKBB, weshalb sie sich auf Recht und Gerechtigkeit berief und es auch für legitim erachtete, auf die Gültigkeit der Menschenrechte zu verweisen.

Bei ihren regelmäßigen Zusammenkünften lernten einige Prediger und Predigerinnen neue Theologen und Philosophen aus dem Ausland kennen (P. Ricœur, E. Levinas, P. Lapide, Theologen der Prozesstheologie und -philosophie u. a.). Die theologische Kontinuität in Bezug auf ein positives Verständnis von Recht und Menschenrechten war also, wie der Brief Miloš Rejchrts belegt, nicht völlig aus der Kirche verschwunden. Samisdat-Schriften der Philosophin Božena Komárková, die im regen Kontakt zu den „Kindern der Büßer“ und der „Neuen Orientierung“ stand, waren bereits im Umlauf. Sie war es auch, die – im Unterschied zu vielen Theologen – auf das reformatorische Rechtsverständnis (Th. de Bèze) Bezug nahm. Božena Komárková berief sich auf die Grundsätze der EKBB, was ihr später die Fürsprecher der Charta 77 gleichtaten, die mit ihnen auch die Legitimität der „Petition der Einunddreißig“ (1977) und ihr Vorgehen bei deren Einreichung rechtfertigten, denn sie legten die Petition unter Umgehung des Amtsweges direkt der Föderalversammlung vor.

 Die Gemeinschaft, die man im Februar 1975 auseinandergetrieben hatte, traf sich weiter und setzte ihre Bildungsaktivitäten in regelmäßigen Intervallen in verschiedenen Pfarrhäusern fort. Sie richteten auch ein „fliegendes“ postgraduales Theologiestudium ein. Es gab Vorlesungen zu theologischen und philosophischen Themen, wie im nächsten Teil des Weges der Kirche dokumentiert wird. Regelmäßig alle vier Monate kamen die Teilnehmer in verschiedenen Pfarrhäusern zusammen. Der Ort des nächsten „Libštát-Treffens“ wurde nicht laut ausgesprochen, er wurde schweigend festgelegt, indem man auf denjenigen zeigte, der sich bereit erklärt hatte, die Freunde bei sich aufzunehmen. Organisatorisch handelte es sich nach wie vor um eine offene Gemeinschaft, die jeden jüngeren Kollegen aufnahm, der Interesse und Solidarität bekundete. Die organisatorische Flexibilität bewirkte offenbar, dass es zu keiner weiteren Auflösung eines Libštát-Treffens kam, denn der Druck vonseiten des Staates ließ nicht nach, was insbesondere die Unterzeichner der Charta 77 zu spüren bekamen. Die Gemeinschaft der „jungen Generation“ und ihrer Freunde erhielt ihre Bildungsprogramme bis zum Jahr 2011 aufrecht.

Das wichtigste Dokument dieser Gemeinschaft ist das „Manifest – Kinder der Büßer“. Einige aus dem Libštát-Kreis gehörten zu den Unterzeichnern der Charta 77. Dort begegneten sie wiederum einigen Mitgliedern der „Neuen Orientierung“, und im Kontext der Charta 77 unterzeichneten sie dann die „Petition der Einunddreißig“. Fünf von ihnen verfassten gemeinsam eine Begründung, warum es theologisch legitim ist, sich mit dem Problem der Gerechtigkeit und der Menschenrechte zu befassen. So entstand das Dokument „Unser Verhältnis zur Verkündung der Charta“, das Milan Balabán, Svatopluk Karásek, Alfréd Kocáb, Miloš Rejchrt und Jakub S. Trojan miteinander verband. Sie reagierten auch gemeinsam auf einige Dokumente des Synodalrats und die Fakultätsthesen (acht Thesen – 1977), die der Synodalrat an die Gemeinden verschickte, in dem Glauben, so die innerkirchliche Diskussion zurückzudrängen. Erwähnenswert ist auch, dass die junge Generation schon seit den sechziger Jahren nicht alle Akzentsetzungen der „Neuen Orientierung“ übernahm. Svatopluk Karásek äußerte sich beim Jugendtag in Jimramov (1972) im Blick auf die „Neue Orientierung“ folgendermaßen: „Wir waren immer gegen die ,Neue Orientierung‘. Nun aber wird sie von der Staatssicherheit verfolgt. Deshalb müssen wir uns alle zur ,Neuen Orientierung‘ bekennen. Alle können sie nicht verhaften.“[11] Auch vonseiten der „Neuen Orientierung“ werden die Gegner der „Normalisierung“ nicht als einheitliche Strömung dargestellt. J. S. Trojan erinnert im Laufe der 70er Jahre daran, dass die junge Generation den sozialistischen Prinzipien misstraut, die seine eigene Generation versucht zu humanisieren und zur „Vernunft“ zu bringen.[12] Dennoch habe er den Eindruck, dass es möglich sei, eine gemeinsame Sprache zu finden, und diese verkörpere die „Petition der Einunddreißig“ und zudem auch die Erklärung „Unser Verhältnis zur Verkündung der Charta“.

Die Charta 77 als Klammer zwischen „junger Generation“ und „Neuer Orientierung“ Die Situation der Kirche begann sich auch deshalb zu verschlechtern, weil viele Empfehlungen und Invektiven der Staatsmacht nicht schriftlich, sondern nur mündlich in der Kreisleitung, im Büro des Kirchensekretärs oder telefonisch erfolgten – also ohne Spuren zu hinterlassen, ohne Rückmeldung, ohne schriftlichen Beleg. Die „normalisierte“ Gesellschaft war von Mutmaßungen und Befürchtungen abhängig, von der richtigen Einschätzung, welche Verhaltensstrategie zu wählen sei, um der Willkür der Beamten gewachsen zu sein, die den Richtlinien des Kulturministeriums Folge leisteten. Die Gesellschaft begann der Angst vor dem Menschen zu erliegen, von der die biblischen Erzähler (Gen 12,10–20; Abraham verrät seine Frau), der Psalmist (Ps 118,5–7; der Psalmist bittet um Schutz vor menschlicher Willkür) und die Propheten (Jer 20,7–18; der Prophet sieht sich Schikane und alltäglicher Bedrohung ausgesetzt) berichten. Die Angst vor Menschen, die Angst vor Institutionen, die Angst vor der Verfolgung der kirchlichen Gemeinschaft wurde zum täglichen Brot.

Dies war keine neue Situation, sie wurde schon vom Autor des Buches Exodus beschrieben. Wenn ein Waghalsiger versuchte, seine Angst zu überwinden und eine Petition zu schreiben, wurde er dafür getadelt, wie Mose von den Anführern der Israeliten. Der biblische Erzähler schildert ähnliche Verhältnisse wie in der „normalisierten“ Gesellschaft, in der eine Minderheit vom Staatsapparat zermürbt wurde. Die israelitischen Aufseher waren entrüstet, denn sie meinten, dass Mose durch sein Handeln nur unnötig Staub aufwirbelt und die bislang geöffnete Tür der Staatsführung zuschlägt und dass dies zu einer Zuspitzung statt zu einem Abbau der Probleme führt (Ex 5,19–21). Es wurden auch Charaktere gebrochen. Gläubige Menschen begannen zu schreiben, was sie sonst nie geschrieben hätten. Die Redakteure wussten sehr genau, welche Wörter in ihren Artikeln nicht vorkommen sollten („Ringen oder Kampf des Glaubens“ usw.). Die kirchliche Presse schrieb über Themen, die vom Staat als wichtig akzeptiert wurden (das Problem des Weltfriedens nach sowjetischer Auslegung). Im Rahmen der Senioratsausschüsse entstanden Senioratssektionen für Frieden – Friedenskurse waren gern gesehen und der Staat zögerte nicht, Friedensarbeiter mit Quartalsprämien zu belohnen. Die katholische Kirche erlebte ähnliche Situationen und gründete eine Institution, die sich „Pacem in terris“ nannte (dieser Name hatte einen paradoxen Bezug zur Enzyklika Johannes XXIII. „Pacem in terris“, die Rechte und Pflichten der Christen zum Thema hatte). Mit ihrer Tätigkeit karikierte die Organisation jedoch die Intentionen dieser Enzyklika. Dafür erhielt sie Finanzhilfen für besonders aktive Mitarbeiter, ähnlich wie die Protestanten, die in den Friedenssektionen der Seniorate und der Gesamtkirche tätig waren.  

Innerhalb der EKBB standen sich ab der Mitte der 70er Jahre drei bis vier Strömungen gegenüber – die Sympathisanten der Friedensarbeit, die gegenüber dieser Arbeit Gleichgültigen, die Sympathisanten der Pfingstbewegung und die Gläubigen, die gesellschaftliche Gleichgültigkeit und staatsfreundliche Friedensinitiativen ablehnten.

Die führenden Gegner der „Normalisierung“ bemühten sich stets um ein gesellschaftlich verantwortungsvolles Handeln, d. h. ein Handeln im Geiste der Grundsätze der EKBB, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Charta 77 sowie des Gesetzes Nr. 120/1976. Sie hatten nie vor, Machtmittel einzusetzen, und es ging ihnen immer um Recht und Gerechtigkeit, die nicht auf Strafe, sondern auf Barmherzigkeit abzielen. Sie versuchten nicht nur, die Einhaltung der Gesetze und die Möglichkeit, Rechte umzusetzen, zu überwachen, es ging ihnen hauptsächlich um ein reiches Glaubensleben der Gläubigen, um das sie sich auch selbst bemühten.

Die Charta 77 wurde zu einer Klammer zwischen der „Neuen Orientierung“ und der „jungen Generation“ (Kinder der Büßer). Im Rahmen der ersten Unterzeichnungswelle tauchten sieben Namen von EKBB-Mitgliedern auf: Milan Balabán, Aleš Březina, Svatopluk Karásek, Alfréd Kocáb, Miloš Rejchrt, Jan Šimsa und Jakub S. Trojan. Zu ihnen gesellten sich schon bald noch weitere: Zdeněk Bárta, Edmund Bauer, Tomáš Bísek, Pavel Hlaváč, Jan Keller, Bohdan Pivoňka und andere, siehe oben.

Wichtig ist dabei, dass die Theologen die Menschenrechte nicht als säkulares Thema betrachteten, das sie willkürlich oder weil es modern wäre für sich in Anspruch nahmen, das sie christlich bemäntelten und so zu populären Märtyrern wurden. Die Philosophin Božena Komárková begründete ihr Engagement für die Menschenrechte mit prophetischevangelischen Positionen und einer reformierten Theologie, die Pfarrer Milan Balabán und J. S. Trojan setzten sich aufgrund prophetischer und auf den Evangelien beruhender Positionen und einer lutherischen Theologie für Menschenrechte ein. Während mehrmonatiger Debatten innerhalb der Charta 77 kam es bei J. S. Trojan zu einer Weiterentwicklung seiner bisherigen Akzentsetzungen und in der Folge rief er zum Widerstand gegen die Staatsgewalt mittels Petitionen auf. Widerstand sei notwendig, da der Staat seine eigenen Gesetze nicht einhalte und viele Menschen daran hindere, ihre Rechte und Freiheiten in der Gesellschaft zu entfalten. Im Text der Petition ist folgende Formulierung zu finden: „Das staatliche Ideologiemonopol nimmt in Form eines militanten Atheismus gegenüber den Christen und den Kirchen in den letzten Jahren erneut eine unterdrückende Funktion an, ähnlich wie der dogmatische Marxismus in anderen Bereichen.“[13] 

Die Kirchenleitung erfuhr von der geplanten Petition, denn in der Kirche ist es schwer, etwas geheimzuhalten, und so wurde Dr. theol. J. S. Trojan von Synodalsenior Dr. theol. Václav Kejř zu einem pastoralen Gespräch geladen, bei dem er gemeinsam mit Dr. iur. František Škarvan (Mitautor der Grundsätze der EKBB) verlangte, die geplante Petition nicht abzuschicken und mögliche Beschwerden gegen diskriminierende Methoden der Staatsorgane den Verhandlungen zwischen Vertretern des Synodalrats und den staatlichen Stellen zu überlassen. Ergebnis dieses Gesprächs war das ausdrückliche Verbot an J. S. Trojan, die Petition an die Föderalversammlung abzusenden. Danach griffen weitere Persönlichkeiten mit ihren Briefen in den Fall ein. Der wichtigste von ihnen war wohl der Brief von Božena Komárková „Difficile est …“, in dem sie mit der reformatorischen Theologie (Johannes Calvin und Théodore de Bèze) die Berechtigung für gläubige Laien begründet, Petitionen zu versenden. Professorin Komárková rief den Synodalsenior dazu auf, die presbyterial-synodalen Prinzipien zu achten, und bat ihn darum, vom hierarchisch-biskupalen Verständnis der Autorität des kirchlichen Amtes Abstand zu nehmen. Auch in diesem Fall ging es den Opponenten um eine rechtlich-administrative Lösung und um die Respektierung der Würde jedes einzelnen Gläubigen.

Die „Petition der Einunddreißig“ ist ebenso wie die „Charta Nr. 9“ (Stellung der Kirche in der Gesellschaft, unterzeichnet vom Sprecher Jiří Hájek am 22. 4. 1977) ein evangelischer Beitrag zur tschechoslowakischen Debatte über Recht und Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft.[14] Dasselbe gilt auch für die Erklärung von fünf evangelischen Unterzeichnern der Charta 77 vom Februar 1977, die auch auf Deutsch erschienen ist.

Die „Petition der Einunddreißig“ enthält eine Analyse unter der Überschrift „Die Stellung der Kirche und der Gläubigen“ und beschäftigt sich in zehn Abschnitten eingehend mit folgenden Punkten: 1. Einschränkung der gemeindlichen Aktivitäten durch den Staatsapparat; 2. Beschränkung der ökumenischen Arbeit; 3. Entzug der staatlichen Genehmigung für die Ausübung der Tätigkeit als Geistlicher; 4. Probleme der Pfarrer im aktiven Dienst – ihre fehlende rechtliche Absicherung; 6. Maßnahmen gegen die Gläubigen am Arbeitsplatz; 7. Probleme mit dem Zugang der Gläubigen zu Bildung; 8. Erklärung zur Stellung der „Neuen Orientierung“ in Kirche und Gesellschaft, Pluralität bei der Betrachtung gesellschaftlicher und religiöser Probleme; 9. Problem der Publikationstätigkeit der Kirche – diskriminierende staatliche Verordnungen; 10. Problem der rechtlich-administrativen Ordnung der Kirche – Wichtigkeit der Konvente und Synoden – als Garantie für die demokratische Verfasstheit der Kirche.

Der Einfluss der Pfarrer ohne Genehmigung und ihrer Sympathisanten

Der Staatsapparat kämpfte an mehreren Fronten – er entzog Einzelnen die Genehmigung (J. Z. Dus, V. Sláma), er versuchte, den Einfluss des Predigerverbandes (SČED) zurückzudrängen (der Verband wurde schließlich aufgelöst), er wandte sich gegen die „junge Generation“ und entzog den Betroffenen die Genehmigungen für den Dienst als Geistliche (siehe oben), außerdem bekämpfte er die „Neue Orientierung“ (siehe oben). Offensichtlich erreichte der Staat damit aber nicht das gewünschte Ziel – die Schreiber, Prediger und die Verfasser von Liedern und Gebeten endgültig zum Schweigen zu bringen. Die Herausgabe evangelischer Samisdat-Schriften boomte: Es entstand die eigenständige Edition Špalek (František Šilar, Miloš Rejchrt) und 1988 sogar der evangelische Verlag Eman (Tomáš Trusina); es wurden Abschriften der theologischen Texte von J. S. Trojan (Ferdinand a ti druzí, Sonatina o moci), Milan Balabán (Tázání po budoucím – úvod do starozákonní teologie), Božena Komárková (Původ a význam lidských práv), Pavel Rejchrt (Gedichtsammlungen), Ladislav Hejdánek (Dopisy příteli, Zeitschrift Reflexe) angefertigt; es wurden Übersetzungen kürzerer und längerer theologischer und philosophischer Texte herausgegeben (Paul Ricœur, Pinchas Lapide u. a.); Predigten von Pfarrern ohne Genehmigung wurden abgeschrieben; man vervielfältigte die Rezensionen zu interessanten Büchern; es entstanden Gesangbücher mit neuen Liedern von S. Karásek, M. Rejchrt, B. Pivoňka und anderen; in der Tschechoslowakei wurde die Handschrift für ein Gesangbuch zusammengestellt und dann über die Edition Mana aus den Niederlanden unter dem Titel Das neue Lied (Nová píseň) wieder zurückgeschmuggelt. Die Pfarrer ohne Genehmigung wurden dennoch gehört: dank ihrer theologischen Schriften, der Wohnungsseminare, der Gemeindekreise (Z. Bárta), der regelmäßigen Zusammenkünfte der Libštát-Gemeinschaft, dank der Senioratsjugendtreffen, wo man von mutigen Pfarrern und Theologen die neuen geistlichen Lieder lernen konnte. Die Lieder wurden bei den Jugendbibelstunden gesungen, sie erschienen als Samisdat, ohne dass die Namen der Autoren genannt wurden. Außerdem wurden die neuen Lieder auch von anderen Gruppen und Kirchen (röm.-kath. Liederbuch „Hosana“) übernommen.

Deshalb kann man folgende Hypothese aufstellen: Die kirchliche Bildung lag zu keinem geringen Teil in den Händen der Pfarrer ohne Genehmigung. Diese Pfarrer und ihre Sympathisanten, diese für viele unsichtbare Kirche, um mit einem Terminus der Reformation zu sprechen, lebte und entfaltete sich in einer Symbiose mit der sichtbaren Kirche. Es kam zu keiner institutionellen Abtrennung und Spaltung, eher zu einer Symbiose und zu verschiedenen Spannungen. Mitunter kam es auch zu Missverständnissen, und an manchen Stellen, an denen die Vergangenheit der Kirche noch nicht bewältigt wurde, überdauert dieses theologische Missverständnis bis heute. Zumindest zeugt davon die Tatsache, wie wenigen Pfarrern und Laien bewusst ist, dass die Menschenrechte ein legitimes theologisches Thema sind und dass reformierte Theologen wie Théodore de Bèze und andere die Menschenrechte als eine Gabe Gottes bezeichneten. Deshalb betrachteten die Väter der Reformation Rechte als etwas Unveräußerliches. 

Theologisch gab es in der EKBB zwei grundlegende Lager, es kam jedoch nie zu einer dogmatischen oder gänzlichen Abtrennung und Spaltung. Man kann aber von einer Bekenntnisspur der Pfarrer ohne Genehmigung innerhalb der Evangelischen Kirche sprechen. Keinem der Protagonisten ging es um die Bildung einer neuen, abgespaltenen Kirche, wie es nach 1989 die Pfingstler im Rahmen unserer Kirche anstrebten, die dann ja auch voller Abscheu die EKBB verließen. Mit dem Terminus „unsichtbare Kirche“ – d. h. für einige Protestanten unsichtbar – soll eine bestimmte programmatische bzw. theologische Ausrichtung zahlreicher aktiver Mitglieder bezeichnet werden, die sich in Texten, Liedern, Gebeten, Predigten, Bibelstunden und Sammelbänden ausdrückte. Diese freie Gemeinschaft an sich war eine theologisch pluralistisch geformte Gemeinschaft, deren Mitglieder sich jeweils in irgendeiner Art auf öffentliche, gesellschaftliche und natürlich auch liturgische und spirituelle Dinge bezogen, weshalb sie auch Lieder schrieben und sangen. Ohne sie wären in unserer Kirche viele theologische Akzente nicht vorgebracht und umgesetzt worden. Es muss auch erwähnt werden, dass diese unsichtbare Kirche von vielen evangelischen Intellektuellen abgelehnt und kritisiert wurde, einschließlich der Kritik an den Samisdat-Schriften, die als Unfug, als schmierige Papiere bezeichnet wurden, mit denen man sich als anständiger Mensch nicht befassen sollte. So war es auch in evangelischen Predigten nach 1977 zu hören. Wir waren eine faktisch gespaltene, nicht aber völlig geteilte Kirche. 

Manche Spannungen und auch Missverständnisse bestehen bis heute, aber nur in bestimmten Dimensionen, insbesondere bei denen, die das Nebeneinander von Büßertradition und verstockter Antibüßertradition der Normalisierung innerhalb der EKBB noch nicht bewältigt haben. Bis heute ist einigen Pfarrkollegen die theologische Legitimität der Menschenrechte nicht bewusst und sie haben nicht erkannt, wie wichtig es ist, sie aus dem Kern des Evangeliums heraus zu verteidigen, wie es im Unterschied zu den meisten tschechischen Theologen der tschechische christliche Philosoph Ladislav Hejdánek bereits im Jahr 1977 getan hat.[15] Es ist also höchst ermutigend, dass auch der Neutestamentler Petr Pokorný auf dieselbe Quelle der Menschenrechte in den Evangelien (Mt 25,31 ff.) verweist.[16] So begegnen sich diese beiden ehemaligen Mitglieder der Gemeinde Vršovice nach Jahrzehnten des Schweigens wieder auf dem Weg des Glaubens in einer gemeinsamen Spur.

Das fehlende Verständnis eines kleineren Teils der Kirche für öffentliche Angelegenheiten dauert in gewissem Maße bis heute an, beziehungsweise wird die Aktualität der Notwendigkeit eines sozialen Friedens mit denen, die in unserer heutigen Gesellschaft an den Rand gedrängt sind (Roma, Muslime), nicht gesehen. Die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder sollte gerade aufgrund ihrer Entwicklung in der Zeit der „Normalisierung“ diesen Fragen gegenüber sensibel sein. Einige Gemeinden und Diakoniezentren sind sozial engagiert, z. B. Šluknov, Rumburk, Český Brod (Verein Leccos). Auch von der Gesamtkirche wird die Romainstitution „Slovo 21“ unterstützt. Darüber hinaus ist erfreulich, dass der Prager Konvent über einen gesamtkirchlichen Pfarrer für Minderheiten und sozial Ausgegrenzte verhandelt hat (8. 11. 2014). Dieselbe Richtung visiert auch die ökumenische Junge Gemeinde der Kirche St. Martin in der Mauer an. Auf Anregung Mikuláš Vymětals und des Verlags Eman veröffentlichte sie den Sammelband Trinket alle daraus (Pijte z něho všichni, 2014). Auch zum 600-jährigen Jubiläum der Wiederaufnahme des Abendmahls in beiderlei Gestalt entspann sich eine Podiumsdiskussion zum Thema sozial Ausgegrenzte (Romaaktivisten), gemeinnützige Organisationen (Leccos) und EKBB (12. 10. 2015).

 

[1] OTÁHAL, Milan. Opoziční proudy v české společnosti 1969–1989. Česká společnost po roce 1945, Band 7, Praha: Ústav pro soudobé dějiny AV ČR, 2011, S. 69–70.

[2] MLYNÁŘ, Zdeněk. Mráz přichází z Kremlu. Praha: Mladá fronta, 1990. (Eine der meistgelesenen Samisdat-Schriften der 80er Jahre.) 3Křesťanská revue 2/1969, S. 26f.

[3] Bei der Beerdigung wählte der evangelische Pfarrer Jakub S. Trojan zwei Zitate aus den Evangelien als Predigttext: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ (Joh 15,13) und „Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.“ (Mt 5,8) (Křesťanská revue 2/1969, S. 31–33).

[4] OTÁHAL, Milan. 2011, S. 52. Wahlen der Volksvertreter fanden am 26. 11. und 27. 11. 1971 statt.

[5] HEJDÁNEK, Ladislav. Úvod do filosofování, Praha: OIKOYMENH, 2012.

[6] OTÁHAL, Milan. 2011, S. 109–110. Der Brief wurde von 30 entlassenen Häftlingen unterzeichnet, unter ihnen K. Bartošek, L. Hejdánek, K. Kaplan, J. Stehlík (Initiator), die Geschwister Šabata, P. Šustrová, Z. Vašíček u. a.

[7] HEJDÁNEK, Ladislav. Dopisy příteli, Praha 1993, siehe Vorwort von Jan Šimsa, S. 12.

[8] PFANN, Miroslav. „Nová orientace“ v Českobratrské církvi evangelické v letech 1959–1968, malá historie jednoho hnutí evangelických křesťanů podle archivních dokumentů, Středokluky: Zdeněk Susa, 1998.

[9] Zdeněk Bárta, Edmund Bauer, Tomáš Bísek, Petr Brodský, Daniela Brodská, Dan Drápal, Pavel Hlaváč (schickte seine Unterschrift per Telegramm an das Präsidium der XX. Synode, wurde dem Original beigefügt), Svatopluk Karásek, Jan Keller, Jan Kozlík, Daniel Matějka, Věra Matulová, Michael Otřísal, Pavel Otter, Bohdan Pivoňka, Miloš Rejchrt, Vojen Syrovátka, František Šilar, Jan Tydlitát, Olga Tydlitátová, Miloslav Vašina, Jaroslav Vítek, Jana Zlatohlávková.

[10] M. Balabán, Z. Bárta, E. Bauer, T. Bísek, D. Bísková, P. Brodský, D. Brodská, A. Březina, L. Hejdánek, P. Hlaváč, J. Hrabina, M. Jirounek, S. Karásek, J. Keller, M. Kellerová, A. Kocáb, B. Komárková, J. Kozlík, P. Krejčí, M. Krejčová, J. Litomiský, M. Matzenaurová, J. Pfann, B. Pivoňka, M. Rejchrt, V. Syrovátka, D. Syrovátková, J. Šimsa, J. S. Trojan, M. Vašina und J. Vydrář

[11] HŘÍBEK, Pavel. 2004, S. 228.

[12] TROJAN, J. S. Křesťanská existence v socialistické společnosti aneb teologie průšvihu, Studie I/1977, S. 67–86, Křesťanská akademie, Rom.

[13] Die „Petition der Einunddreißig“ ist an die Föderalversammlung adressiert, wodurch sie sich von früheren Memoranden aus den „Goldenen Sechzigern“, die der Synodalrat der EKBB ab 1963 an das Kulturministerium schickte, unterscheidet.

[14] Autor des Dokuments ist J. S. Trojan. Er knüpft hier an die böhmische sowie die reformierte und lutherische christliche Tradition an und bringt sie in die moderne Diskussion über die Menschenrechte ein. Dem Dokument wird das Zitat von J. A. Comenius „Omnia sponte fluant, absint violentia rebus“ vorangestellt. Der Autor stützt sich auf die Passagen der tschechoslowakischen Verfassung, die sich auf die Rechtsgleichheit der Bürger beziehen, stellt sie dann in den Kontext zweier internationaler Pakte aus dem Jahr 1976 und verweist auf die entsprechenden Artikel. Am Ende interpretiert er das Gesetz Nr. 218/1949 GBl. neu und erinnert an die Notwendigkeit, dieses Gesetz mithilfe von § 268 des Arbeitsgesetzbuchs auszulegen, damit es nicht zu unangemessenen Maßnahmen gegenüber kirchlichen Mitarbeitern kommt.

[15] HEJDÁNEK, Ladislav. Dopisy příteli, S. 134.

[16] POKORNÝ, Petr. Ježíš Nazaretský, Praha: OIKOYMENH, 2005, S. 125: „... Jesu Schüler vermitteln allen Völkern die ethischen Normen, wie sie Jesus lehrte, d. h. im Grunde einen konkretisierten Dekalog, zusammengefasst im Doppelgebot der Liebe. Dass diese Normen heute anerkannt und in der Menschenrechtsakte enthalten sind, ist eine wichtige, wenn auch wenig beachtete Tatsache.“