Jan Keller - Biographisches Porträt unter Berücksichtigung des Gerichtsprozesses

Jan Keller war als Pfarrer der EKBB, als Arbeiter in verschiedenen Anstellungen und als Bürgermeister des Ortes Jimramov tätig. Das Landgut Zbytov, auf dem sich das Ehepaar Keller niedergelassen hatte, entwickelte sich ab dem Ende der siebziger Jahre zu einem wichtigen Ort der Begegnung (nicht nur) für Jugendliche, die meist aus einem kirchlichen Umfeld kamen. Kellers Wirken im Pfarramt wurde zweimal durch das Eingreifen der staatlichen Behörden unterbrochen. In den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurde gegen den Pfarrer ein Prozess geführt. Dieser wurde unerwartet zu Kellers Gunsten entschieden, der für freiere Formen der kirchlichen Arbeit Stellung bezog.

Jan Keller wuchs von Kindheit an in einem evangelischen Umfeld auf. Er wurde am 15. Februar 1942 in Brno als drittes der vier Kinder von Eleonore (geb. Tardyová) und Josef Keller geboren. Seine Geschwister hießen Marta (später Kadlecová), Věra (verheiratete Pokorná) und Otakar. Kurz nach Kriegsende zog die Familie von Brno nach Prag um. Dort wurde Jan Keller vom Umfeld der EKBB-Gemeinde in PragVinohrady und deren jungen Vikaren geprägt, insbesondere von Jan Šimsa und seiner Frau Milena. Diese führte ihn im Gemeindekreis für größere Kinder in die Arbeit mit der Bibel ein. Einfluss auf seine Entscheidung für ein Theologiestudium hatten vor allem diese beiden und daneben auch die Begegnung mit der evangelischen Jugend. Ein solcher Treffpunkt waren insbesondere die sogenannten evangelischen Arbeitsrüstzeiten.

Die evangelischen Arbeitsrüstzeiten

Die evangelischen Arbeitsrüstzeiten, die auf manche Kreise der damaligen Jungen Gemeinden der EKBB einen starken Einfluss ausübten, wurden zunächst vom Synodalrat der EKBB, vor allem von Marta Kačerová und Karel Trusina, in Zusammenarbeit mit der Theologischen Fakultät, also überwiegend von jungen Theologen und Pfarrern, organisiert. Nachdem es der Fakultät und dem Synodalrat unmöglich gemacht worden war, die Organisation der Rüstzeiten weiterzuführen, waren es Jan Keller und sein Freund und Kommilitone Vojen Syrovátka, die sich schon als Theologiestudenten dieser Aufgabe annahmen. Weil es sich aus staatlicher Sicht um billige Aushilfskräfte für die Wälder und Wiesen im nach dem Krieg zerstörten und entvölkerten Grenzgebiet handelte und weil diese Begegnungen primär unter dem Deckmantel der Arbeit stattfanden, gelang es, die Rüstzeiten, mit verschiedenen Unterbrechungen und Einschränkungen, bis in die siebziger Jahre hinein aufrechtzuerhalten. Die Rüstzeiten waren durch ein gemeinschaftliches Leben geprägt. Die Tage wurden von biblischen Andachten gerahmt und waren ausgefüllt mit Arbeit, die Abende mit einem gemeinsamen Programm, Bibelarbeiten, Vorlesungen über Kultur, Philosophie u. Ä., gemeinsamen Spielen und Gesang. Obwohl der kommunistische Staat die Kinder- und Jugendarbeit, die sich nicht in seiner Regie abspielte, vehement unterdrückte, widmete sich Keller sein Leben lang der kirchlichen Jugendarbeit. Diese Begegnungen hatten eine ähnliche Struktur, das gemeinsame Programm war mit gemeinschaftlicher Arbeit verbunden, wie Jan Keller am Beispiel der Rüstzeiten schildert:

„Das war ein Umfeld, in dem gearbeitet wurde. Und in dieser Arbeit lernten sich die Leute kennen. Sie lernten sich in diesen vierzehn Tagen von verschiedenen Seiten kennen. Es musste hart gearbeitet werden, manchmal war man müde, manchmal wurde geflucht, die einen hielten durch, andere nicht, manchen wurde ein bisschen unter die Arme gegriffen. Die Leute halfen sich gegenseitig, zogen die anderen mit. (…) Und dann gab es noch die Programme und den Sport und das abendliche gemeinsame Singen und Erzählen im Freien ... Meistens nahmen wir Decken mit und gingen in die Decken gewickelt abends irgendwohin, um zu singen oder Ähnliches.“[1]

Theologische Einflüsse, Armeezeit

Die Evangelisch-Theologische Comenius-Fakultät absolvierte Keller in den Jahren 1959–1964. Besonders verehrte er den Professor für praktische Theologie Josef Smolík und den Professor für Neues Testament Josef Bohumil Souček, der bereit war, mit den Studierenden offen über politische Fragen, z. B. über die Aussiedlung der Deutschen, zu diskutieren. Zusammen mit seinen jungen Pfarrkollegen traf er Keller sich noch mehrere Jahre nach dem Abschluss der Fakultät in einem Seminar, das Professor Smolík für sie veranstaltete. Diese Seminare waren für Keller ihn ein Ort, wo sich Kollegen begegnen konnten, deren theologische, aber auch gesellschaftlich-politische Haltungen nicht übereinstimmten. Smolík selbst beendete dann – Keller zufolge wohl unter behördlichem Druck – diese Seminare. Großen Einfluss auf Kellers Ausrichtung hatten außerdem ältere Kollegen, die der sog. Neuen Orientierung – einer Bewegung von Pfarrern und Laien der EKBB – angehörten. Diese waren auf der Suche nach neuen Wegen der Gemeindearbeit und nach einer der gegenwärtigen Situation angemessenen Bibelauslegung und bemühten sich um einen kritischen Dialog mit den Vertretern des Regimes, vor allem über Fragen der Menschenrechte. Zu ihnen gehörten insbesondere das schon erwähnte Ehepaar Šimsa, Kellers Vorgänger in der Gemeinde in Kdyně, Jakub S. Trojan, und andere. Noch während seiner Studienzeit kam es dabei zu paradoxen Situationen. Keller nahm damals zusammen mit anderen Studenten als Helfer am Treffen der ökumenischen und mit der politischen Ordnung konformen Christlichen Friedenskonferenz (CFK) teil. Dabei musste er beim Dienst an der Rezeption unter anderem gerade den Kollegen von der Neuen Orientierung den Zutritt zur Konferenz verwehren, denn sie standen nicht auf der Liste der Delegierten. Von seinem Vertrauen in die CFK rückte er später ab, vor allem unter dem Einfluss seines Kommilitonen und lebenslangen Freundes Pavel Hlaváč.[2]

Nach dem Abschluss der Fakultät wurde Keller für zwei Jahre zum Wehrdienst nach Milovice einberufen. Trotz gelegentlicher schwieriger Erfahrungen, die mit einer militärischen Ausbildung verbunden sind, einschließlich eines zehntägigen Aufenthalts in Einzelhaft, schätzt er, wie viele seiner Kollegen, die Erfahrung der Armeezeit positiv ein. Es sei ein Ort gewesen, an dem „viele Freundschaften geschlossen wurden“.[3]

Familie

Nach seiner Rückkehr vom Wehrdienst im Herbst 1966 heiratete Vikar Keller Marta Novotná (Jahrgang 1945). Er hatte sie bei beim Organisieren einer der Sommerrüstzeiten kennengelernt. Seine Frau Marta stammt wie er aus einer evangelischen Familie. Sie war im Umfeld des evangelischen Sommerlagers in Běleč nad Orlicí aufgewachsen, das ihr Großvater Adolf Novotný gegründet hatte.[4] Sie absolvierte die Fachoberschule für Technik und Wirtschaft mit Spezialisierung auf Spielzeug und Marionetten und arbeitete anschließend in einem Puppenfilmstudio, im Atelier des berühmten und vielseitigen Künstlers Jiří Trnka. Nach vielen Jahren als Hausfrau widmete sie sich nach 1989 wieder der Fertigung von Holzmarionetten. Das Ehepaar Keller hat heute vier Kinder – Zuzana, Magdalena, Filip und Noemi –, zehn Enkel und zwei Urenkel. 

Die Gemeinde in Kdyně

Das junge Ehepaar Keller zog kurz nach der Hochzeit nach Kdyně im Böhmerwald um, wo Keller in der evangelischen Gemeinde seine erste Pfarrstelle hatte. Er übernahm die Gemeinde von dem bereits erwähnten Pfarrer Jakub S. Trojan. Dieser übergab ihm eine neu gebaute Kirche und Ratschläge für den Umgang mit den Mitarbeitern der Staatssicherheit, mit denen er als neuer Pfarrer schon bald in Kontakt kommen sollte. Es handelte sich um drei Grundsätze, die sich für ihn bewährten: nie über Dritte sprechen, nie etwas unterschreiben (außer dem obligatorischen Verhörprotokoll) und nie Verschwiegenheitszusagen machen. Weil er in Kdyně um das Jahr 1968 herum tätig war, als die Kirchen nicht mehr so stark beaufsichtigt wurden, war die Überwachung durch die Staatssicherheit nicht so engmaschig und es gab nicht so häufig Gespräche mit dem Sekretär für Kirchenfragen wie in späteren Jahren. Die aus der Los-von-RomBewegung in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts hervorgegangene und früher große Gemeinde in Kdyně, hatte in der Zeit von Kellers Amtsantritt nicht mehr allzu viele Mitglieder. Trotzdem konnte er sich auch hier der Kinder- und Jugendarbeit widmen. In der Zeit der Entspannung im Jahr 1968 gelang es, ähnlich wie in anderen Gemeinden der EKBB, auch ursprünglich konfessionslose Menschen einzuladen und mit ihnen in einer zivileren Form zu arbeiten als mit den traditionellen Protestanten.

Zu einigen hatten die Kontakte auch nach der Niederschlagung des Prager Frühlings Bestand. In diesem kurzen Zeitraum konnten die kirchliche Arbeit und die Arbeit mit einer breiteren Öffentlichkeit miteinander verknüpft werden. Der Pfarrer organisierte in dieser Zeit gemeinsam mit Lehrern und Beamten der Stadtverwaltung, mit denen früher eine Zusammenarbeit nicht infrage gekommen wäre, ein großes öffentliches Hus-Fest.

Die Gemeinde in Kdyně gehörte zum Seniorat Westböhmen (Seniorat = ein kirchliches Verwaltungsgebiet), in dem zur selben Zeit mehrere prägende Pfarrer, wie zum Beispiel Jiří Zejfart, Miroslav Rodr und Pavel Hlaváč, tätig waren. Einige von ihnen, wie Alfréd Kocáb und Jan Zeno Dus, gehörten der „Neuen Orientierung“ an. Die Unterschriften der drei Letztgenannten standen später gemeinsam unter der Charta 77. Schon in jenen Jahren äußerten sich diese Pfarrer zur politischen Situation, und zwar auch international. Das belegt zum Beispiel ein an die Regierung der ČSSR adressierter Brief von 1967, in dem die Verfasser zur damaligen Situation in Israel Stellung bezogen. 

Die Zeit, in der sich die staatliche Überwachung nach dem August 1968 allmählich wieder verschärfte, verbrachte Keller mit seiner Familie im westdeutschen Mainz-Kastel am Zentrum für kirchlichen Dienst in der Industriegesellschaft, das von der deutschen Gossner Mission betrieben wurde, die sich mit der pastoralen Arbeit in Industrieberufen befasste. Die Arbeit der Gossner Mission fand in der EKBB in den sechziger Jahren besonderen Anklang – nicht nur unter den Pfarrern, die der „Neuen Orientierung“ angehörten. Am Seminar erprobte Keller die pastorale Arbeit in einer Fabrik, in der er selbst zusammen mit den anderen Arbeitern normale Fabrikarbeit leistete. Die Ereignisse des Frühjahrs 1969 – die Selbstverbrennung Jan Palachs und die Wahl Gustáv Husáks zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der KSČ, die den Beginn der sog. Normalisierung signalisierten – bewegten bewogen die Familie allerdings zur vorzeitigen Rückkehr in die Heimat.

Die Gemeinde in Jimramov

In der Zeit der sich festigenden „Normalisierung“, im Jahr 1971, zog Keller mit seiner Familie an einen neuen Wirkungsort um – in die alte, traditionelle Gemeinde in Jimramov auf der Böhmisch-Mährischen Höhe. Die Gemeinde Jimramov vereinte zahlreiche Protestanten aus den umliegenden Dörfern, in die Keller während der Woche fuhr, um dort Bibelstunden für die älteren Menschen zu halten. Vielleicht weil Jimramov ein traditioneller christlicher Ort war und das Dorfleben mit dem kirchlichen Leben eng verbunden war, gelang es dort im Unterschied zu vielen anderen Gemeinden, die gesamte Zeit über trotz gewisser Einschränkungen direkt in der Schule Religionsstunden abzuhalten, und dies sogar in mehreren Gruppen, wenn auch die Teilnehmerzahlen, genauso wie bei den anderen kirchlichen Aktivitäten, unter dem atheistischen Druck – und, so ist hinzuzufügen, parallel zu einer allgemeineren europäischen Säkularisierung – in einem gewissen Umfang zurückgingen. Dazu, dass weiterhin in der Schule Religion unterrichtet wurde, trugen sicherlich auch die guten Beziehungen bei, die Keller nach eigenen Aussagen zu den Lehrern und zum Direktor unterhielt. Diese respektierten den Religionsunterricht, wie auch folgender amüsanter Auszug aus dem Interview mit Keller belegt:

„Der Direktor verkündete damals im Schulfunk, wie mir danach ein Lehrer erzählte: ,Heute erhalten die Pioniere ab 11 Uhr im Kino ihre Halstücher. Es nehmen alle Pioniere daran teil, sowohl die neu aufgenommen werden als auch die älteren. Die Pioniere, die den Religionsunterricht besuchen und ihr Halstuch erhalten sollen, entschuldigen sich beim Pfarrer und gehen zur Halstuchübergabe.[5] Die Pioniere, die ihr Halstuch schon haben und den Religionsunterricht besuchen, gehen zur Religionsstunde und kommen danach zu uns ins Kino.‘“[6]

Der Schwerpunkt von Kellers Arbeit als Pfarrer lag, genauso wie bei seinen Kollegen, auf dem Gemeindeleben. Seine Arbeit war besonders von seiner persönlichen Art geprägt, auf Menschen zuzugehen – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gemeinde, besonders im Rahmen der dörflichen Gemeinschaft. Keller gibt an, auch beim Schreiben seiner Predigten an konkrete Gemeindemitglieder gedacht zu haben. Dabei war er darum bemüht, dass seine Predigten für sie keine Ermahnung, sondern eine Stärkung in ihrem persönlichen Leben und den Schwierigkeiten aufgrund ihrer Kirchenzugehörigkeit sindwaren. Um diese Ausgewogenheit bemühte er sich vor allem im Hinblick auf den großen Wert, den er nach eigenen Worten in seinen Predigten auf die menschliche Verantwortung legte: „(…) der Mensch kann den Dingen, die um ihn herum geschehen, gegenüber dem Leben der anderen, gegenüber ihrem Ringen und Suchen nicht gleichgültig sein. Ich würde sagen, dass die Frage der Verantwortung da auch immer präsent war – die Verantwortung gegenüber Gott für die anderen und auch dafür, was ich sage und tue (…)“[7]. Ein weiteres Motiv seiner Predigten und Gottesdienste, die er als Gottes Dienste am Menschen auffasste, sollte die Betonung dessen sein, dass das Christentum weder Pflicht noch Privileg ist, sondern ein Angebot Gottes, das die Christen annehmen können. Die erwähnte Verantwortung bezog sich für ihn auch auf Fragen der Gesellschaft und Politik. Hier hielt er an der Überzeugung fest, dass es, wenn die Obrigkeit schlecht richtet, notwendig istsei, sich im Sinne des dreizehnten Kapitels des Römerbriefs zu Wort zu melden, und dies vor allem mit Rücksicht auf unterdrückte und leidende Menschen. Er beharrt allerdings darauf, sich in seinen Predigten nicht direkt zu politischen Fragen geäußert zu haben.

In der Umgebung von Jimramov waren mehrere befreundete Kollegen tätig, die sich gegenseitig besuchten und zusammenarbeiteten. Sie organisierten gemeinsame Jugendtreffen, trafen sich zum gemeinsamen Lesen theologischer Bücher und besprachen miteinander ihre Arbeit und ihre unterschiedlichen Methoden. Abgesehen von den älteren Kollegen, waren das vor allem Kellers Altersgenossen Tomáš Bísek, Pavel Hlaváč, Miloslav Plecháček und Bohdan Pivoňka. Sie halfen sich auch gegenseitig, den Druck auszuhalten, den die staatlichen Behörden, vor allem die Sekretäre für Kirchenfragen, auf die Pfarrer ausübten. Dieser Druck gipfelte im Falle von Bísek und Keller schließlich in der Aberkennung der staatlichen Genehmigung für den geistlichen Dienst. Die Kollegen im Seniorat suchten auch gemeinsam nach Wegen, wie man den immer enger werdenden Spielraum für die kirchliche Arbeit nutzen kannkonnte, und sie versuchten, den Kollegen, denen diese Arbeit unmöglich gemacht wurde, Gelegenheit zu geben, sich einzubringen:

„Wir taten nichts Verbotenes, nichts, wovon wir wussten, dass wir dadurch die staatliche Genehmigung verlieren könnten, aber wir gingen bis zur äußersten Grenze. (…) Wir versuchten zu vermeiden, dass es zu Konflikten oder Verboten kommtkam. Wenn Petr Brodský zu Besuch war, luden wir ihn ein zu predigen. Er hatte keine staatliche Genehmigung und so zog einfach ich den Talar an und sprach den Introitus (das Eingangswort, Anm. d. Verf.), dann folgte Brodský mit dem Gebet, der Bibellesung, der Predigt und einem Gebet, und ich sprach am Ende den Segen.“[8]

Keller fungierte also als Strohmann für die Gottesdienste, die in Wirklichkeit ein Gast hielt – der Pfarrer ohne staatliche Genehmigung Petr Brodský. Dieses Balancieren am Rande des vom Sekretär für Kirchenfragen Geduldeten – denn das war es eher, als ein Balancieren am Rande des gesetzlich Zulässigen, denn diese Grenze war recht unscharf – führte schließlich dennoch zum Verlust der staatlichen Genehmigung.

Der Staatsapparat interpretierte das Kirchengesetz von 1949 in seinem eigenen Sinne. Der zweite Paragraph dieses Gesetzes besagte: „Die staatliche Genehmigung ist nur Geistlichen zu erteilen, die Bürger des tschechoslowakischen Staates sind, die staatlich zuverlässig und unbescholten sind und auch sonst die allgemeinen Bedingungen für die Aufnahme in den Staatsdienst erfüllen.“[9] Diese Bedingungen waren nicht näher spezifiziert, was der Staatsverwaltung Spielräume verschaffte, um insbesondere mithilfe der Sekretäre für Kirchenfragen mit der Begründung eines nicht konkretisierten „Verlusts der Befähigung zur Ausübung einer geistlichen Tätigkeit“ Pfarrern die staatliche Zulassung zur Ausübung ihres Berufs zu entziehen. Die Gründe für den Verlust der Befähigung wurden allerdings in der Regel von den Sekretären nicht angegeben. Die Aberkennung der staatlichen Genehmigung zum geistlichen Dienst betraf laut den bisher ausgewerteten Quellen auf unterschiedliche Weise mindestens 39 Pfarrerinnen und Pfarrer. Die volle Zahl ist wahrscheinlich etwas höher. Darüber hinaus verwehrte der Staat in einigen Fällen Pfarrern bzw. Absolventen der Evangelisch-Theologischen Comenius-Fakultät die Erteilung der Genehmigung für den Dienstantritt in der Gemeinde, außerdem verweigerte sie er die Zustimmung zur Mitgliedschaft in Senioratsausschüssen oder im Synodalrat. So machte der Staat die staatliche Genehmigung zu einem Instrument, mit dessen Hilfe er ins kirchliche Leben, in die Arbeit der Kirche und die innerkirchlichen demokratischen Prozesse eingriff.

Die Aberkennung der Genehmigung für Jimramov

Mit dem immer härter werdenden politischen Kurs der „Normalisierung“ verstärkte sich das Bemühen der Sekretäre für Kirchenfragen, Kellers Arbeit und die kirchliche Arbeit allgemein einzuschränken. Im Frühjahr 1977 unterzeichneten die Eheleute Keller die Charta 77. Sie entschieden sich zur Unterschrift, nachdem sie aus dem Radio Freies Europa von der Charta erfahren hatten, zum einen weil sie mit ihrem Wortlaut einverstanden waren, zum anderen aus Solidarität mit der ersten Gruppe der Unterzeichner. Im Mai unterschrieben beide die sogenannte „Petition der Einunddreißig“, die an die Föderalversammlung adressiert war. Diese Petition analysierte die Stellung der Kirche in der kommunistischen Tschechoslowakei und erhob Einspruch gegen die Einschränkung der kirchlichen Arbeit. Keller war insbesondere an der Entstehung des Teils der Petition beteiligt, der sich mit der Kinder- und Jugendarbeit befasste. Dieser Abschnitt entstand nach seiner Aussage in Zusammenarbeit mit anderen in der Wohnung seines Bruders Ota Keller und dessen Frau Jana in der Pařížská-Straße in Prag. Nachdem sie die beiden Dokumente unterzeichnet hatten, intensivierte sich das Bemühen der Sekretäre für Kirchenfragen, dem Jimramover Pfarrer die Genehmigung für den geistlichen Dienst zu entziehen. Dieses Bestreben bestand allerdings bereits spätestens seit Anfang 1975.

Nachdem sich der Sekretär jahrelang darum bemüht hatte, kam es 1981 zur Aberkennung der Genehmigung für die Gemeinde Jimramov. Dem gingen mehrere Verwarnungen durch den Bezirks- und den Kreissekretär für Kirchenfragen sowie eine Abmahnung durch den Synodalrat wegen der Unterzeichnung der „Petition der Einunddreißig“ voraus. Zudem wurde er Keller in finanzieller Hinsicht schikaniert, indem der Sekretär veranlasste, ihm vom sowieso schon geringen Gehalt die Dienstgradzulage abzuziehen. Der Kreissekretär für Kirchenfragen Ťupa brachte in Kooperation mit dem gefürchteten Bezirkssekretär Bělohoubek wiederholt Beschwerden vor, die mit den Religionsstunden und der Jugendarbeit, Auslandsbesuchen, den erwähnten Gottesdiensten von Pfarrern ohne staatliche Genehmigung, der ökumenischen Zusammenarbeit, Ungereimtheiten in der Buchführung der Gemeinde (die umgehend widerlegt wurden) u. Ä. zusammenhingen. Der Bezirkssekretär für Kirchenfragen nahm es Keller übel, dass er ihm einige seiner Aktivitäten nicht gemeldet hatte. Das gehörte allerdings zur Verteidigungsstrategie gegenüber den Eingriffen des Sekretärs. Es handelte sich also in der Regel um formale Beschwerden, die zum Ziel hatten, die kirchliche Arbeit zu limitieren.

Der eigentliche Entzug der Genehmigung zum 1. 4. 1981 wurde allerdings nicht begründet und sein unmittelbarer Vollzug erfolgte unter dem Druck von Sekretär Ťupa auf mehrere Mitglieder des Jimramover Kirchenvorstandes. Der Sekretär versuchte, ihren Widerstand mit der Drohung zu brechen, dass er, wenn sollte sie sich für Keller einsetzen, auch keinem anderen Pfarrer die Zustimmung für Jimramov erteilterteilen würde. Der Kirchenvorstand trat dennoch bei der Verhandlung mit dem Kreissekretär für Keller ein, auch mithilfe einer Petition, die an das Kreisamt Südmähren und den dortigen Bezirkssekretär gerichtet war.

Um Fürsprache bat der Kirchenvorstand auch den befreundeten Rechtsanwalt Vladimír Ptáček aus Brno. Dieser sprach direkt den Kulturminister der ČSSR Milan Klusák an. Der Jurist argumentierte damit, dass in der Dorfgemeinschaft durch die Aberkennung der Genehmigung für einen beliebten Pfarrer ein negatives Bild von der kommunistischen Regierung entstehen könnte. Das wäre sei besonders vor den anstehenden Wahlen ungünstig. Außerdem forderte der Anwalt eine Untersuchung der Vorgehensweise des Sekretärs für Kirchenfragen, der durch sein hartes Einschreiten gegen die Kirchen die religiöse Toleranz beeinträchtigt habe, und dies ausgerechnet, wo das zweihundertjährige Jubiläum des Toleranzpatents anstehe. Diese Fürsprache dokumentiert, dass der kommunistische Staatsapparat keineswegs ein monolithisches Gebilde war, das einheitlich vorging, sondern dass viele Entscheidungen von konkreten Einzelpersonen und konkreten Beziehungen abhingen. Aufgrund einer solchen Einschätzung beruft berief sich Ptáček nämlich am Ende des Briefes auf seine Bekanntschaft mit Minister Klusák aus gemeinsamen Studienjahren. In diesem Fall allerdings vergeblich. Anders wird sollte dies dann aber im Falle von Kellers Prozess sein. Obwohl Keller eigentlich nicht bereit war, staatliche Eingriffe in das kirchliche Leben zu akzeptieren, stimmte er schließlich widerwillig zu, eine andere Pfarrstelle anzunehmen.

Ein bemerkenswertes Nachspiel zu diesen Ereignissen, die Züge eines absurden Dramas tragen, war Kellers Besuch bei Sekretär Ťupa Ende der achtziger Jahre. Der Pfarrer, der in dieser Zeit keine Zulassung hatte, beschloss, den Sekretär im Ruhestand zu besuchen. Dieser ließ ihn nach anfänglichem Zaudern herein und diesmal führten sie, frei von amtlichen Verpflichtungen, miteinander ein relativ offenes Gespräch, unter anderem auch über ihre unterschiedlichen politischen Überzeugungen. Keller erinnert sich, dass Ťupa den Besuch mit den Worten beendete: „Wollen Sie sich nicht uns (…), den Kommunisten anschließen? (…) Wir brauchen Leute wie Sie. Sie stehen zu Ihrer Überzeugung.“[10] Diese Begebenheit zeigt, dass der trennende Graben, der sich durch die politische, ideologische und professionelle Ebene zog, auf der gesellschaftlichen beziehungsweise zwischenmenschlichen Ebene nicht unüberwindlich sein musste. Es muss allerdings hinzugefügt werden, dass es sich dabei – soweit dem Autor bekannt ist – um einen absoluten Einzelfall handelte.

Die Gemeinde in Černošín und der Prozess

Kellers neue Wirkungsstätte war ab September 1981 Černošín im westböhmischen Grenzgebiet. Den Kern der Černošíner Gemeinde bildeten Remigranten aus Wolhynien, Zelów und Tabor. Sie waren aus diesen Orten – damals auf sowjetischem und polnischem, heute auf ukrainischem und polnischem Gebiet – im Rahmen der Besiedlung der Grenzgebiete nach der Vertreibung der Sudetendeutschen nach Böhmen zurückgekehrt. Sie brachten einen reformierten, pietistisch angehauchten Glauben und eine eigene Kanzel mit.[11] Keller blieb aber nicht lange in der Gemeinde. Wie schon früher veranstaltete er auch hier ein Ferienlager für Kinder aus der Gemeinde und Kinder von Freunden. Der zweite Jahrgang, der im Sommer 1983 im nahegelegenen Zhořec stattfand, lieferte den Vorwand für einen Gerichtsprozess gegen Keller.

Im Dezember 1983 versuchte der Chef der Tachover Staatssicherheit, Keller eine Verwarnung wegen „gesellschaftsfeindlichen Verhaltens“ zu erteilen, das den Charakter einer Straftat gehabt haben sollte. Wegen ähnlicher Fälle früher in Jimramov lehnte es Keller ab, die Verwarnung zu unterschreiben. Er wollte nicht akzeptieren, dass kirchliche Arbeit eine Straftat sein sollte. Aufgrund dieser Schritte leitete die Kreisverwaltung der Staatssicherheit in Tachov die Strafverfolgung ein, mit der Begründung, Keller habe das Lager ohne Zustimmung des Kreissekretärs für Kirchenfragen durchgeführt und damit die staatliche Aufsicht über die Kirchen gemäß § 178 Strafgesetzbuch verletzt. Unmittelbar nach diesem Schritt verbrachte Keller eine Nacht in Untersuchungshaft, es wurde eine Hausdurchsuchung durchgeführt und bald danach wurde ihm die staatliche Genehmigung entzogen.

Im Zuge der Ermittlungen wurden neben den Organisatoren des Lagers, einigen Gemeindegliedern, kirchlichen Vorgesetzten, Senior Zbyněk Laštovka und Staatsbeamten auch die Kinder verhört, die am Lager teilgenommen hatten, und dies in einem erheblichen Teil der Fälle nicht im Beisein der Eltern. Ein Punkt der Anklage sollte die falsche Anschuldigung sein, der Pfarrer habe die Kinder körperlich belästigt. Auf Kellers Einspruch hin ließen die Ermittler diese Fragen aus dem Spiel. Für diese Anschuldigung konnten im Übrigen auch keine Beweise gefunden werden. Die Anklage beschränkte sich deshalb letztendlich auf den Hauptpunkt, nämlich dass die Durchführung des Lagers nicht amtlich genehmigt war.

Interessant ist die Entwicklung der Verteidigungsstrategie, die sich zunächst vonseiten des angeklagten Pfarrers und vonseiten der Kirchenleitung unterschied. Die Kirchenleitung (Senior Laštovka, Konsenior Pavel Pellar und für den Synodalrat vor allem Synodalsenior Hájek und Kurator Lešikar) setzte sich klar für Keller ein. Sie verfolgten jedoch unterschiedliche Strategien. In den ersten Wochen tendierte die Leitung offenbar zu einem pragmatischen Vorgehen, das auch vom Referenten des Sekretariats für Kirchenfragen Fidler vorgeschlagen worden war. Demzufolge sollte es möglich sein, die ganze Sache außergerichtlich zu klären, indem Keller die Verwarnung wegen „Nichteinhaltung der Regeln für die staatliche Aufsicht über die kirchliche Arbeit“ akzeptierte. Keller wies die Verwarnung weiterhin zurück und begründete dies damit, dass er gerade in dieser Arbeit seine eigentliche Aufgabe sehe. Bei der innerkirchlichen Beurteilung der Anklage und der Verteidigung Kellers waren Synodalsenior Hájek und Keller weiter verschiedener Meinung. Dennoch wurde in den folgenden Monaten zumindest nach außen hin das Vorgehen Kellers und der Kirchenleitung gegenüber den staatlichen Behörden allmählich einheitlicher und lief mehr und mehr auf Kellers Argumentation hinaus.

Kellers Verteidigung stützte sich, nach Rücksprache mit dem Juristen und ehemaligen Synodalkurator Pavel Šimek, auf das Argument, dass das Lager zu den traditionellen kirchlichen Aktivitäten gehörte, für die keine Erlaubnis notwendig war. Keller ging es neben der Verteidigung seiner selbst auch um die Verteidigung eines großzügiger abgesteckten Wirkungsbereichs der kirchlichen Arbeit gegen die Eingriffe des Staates. Der Pfarrer stellte das Lager als eine Form der gottesdienstlichen Zusammenkunft dar, denn es gehe dabei ebenfalls um die Verkündigung der biblischen Botschaft. Solche Versammlungen waren von Gesetzes wegen öffentlich zugänglich und man brauchte für sie keine besondere Genehmigung. Gleichzeitig verwahrte er sich aber gegen die Anschuldigung, die biblische Unterweisung sei ein Ersatz für den Religionsunterricht gewesen, für den wiederum die Zustimmung des Sekretärs erforderlich war.

Der Synodalrat übernahm Kellers Argumentation, die auf der Behauptung beruhte, es habe sich im Grunde um eine gottesdienstliche Zusammenkunft gehandelt. Außerdem wurde vom Synodalrat angefochten, dass die Anklage § 178 Strafgesetzbuch geltend machen wollte, denn dieser Paragraph bezog sich lediglich auf die wirtschaftliche Absicherung der Kirchen und es war demzufolge nicht möglich, ihn als Grundlage für eine Anklage wegen Verletzung der staatlichen Aufsicht über die Kirchen zu verwenden. Anfang 1984 wich der Synodalrat allerdings im Hauptpunkt der Verteidigung von Keller ab. Der Synodalrat stellte das Lager als Privataktion des Pfarrers dar, an der die Kinder von Freunden teilnahmen und zu der die Kinder aus der Gemeinde nur hinzugebeten wurden. Damit wollte er Keller wahrscheinlich vor der Anschuldigung bewahren, die mit dem Lager verbundenen Kosten nicht in die Buchführung der Gemeinde eingetragen zu haben. Zudem bezog sich das angeführte Gesetz nicht auf private Veranstaltungen. In ähnlicher Weise wurde Keller auch von Senior Laštovka verteidigt, der von ihm zunächst im selben Punkt abwich wie der Synodalrat. Der Senior gab in seiner Zeugenaussage im Zuge der Ermittlungen an, der Pfarrer hätte das Lager wegen der Teilnahme von Kindern, die nicht zur Gemeinde gehörten, anmelden müssen. Beide übergeordneten Stellen eröffneten so – wohl in dem Glauben, alle verfahrenstechnischen und juristischen Erfordernisse beachten zu müssen – in der ersten Phase des Prozesses in Wirklichkeit der Anklage die Gelegenheit, auf den Zweifeln am Charakter der Zusammenkunft eine stichhaltige Argumentation aufzubauen.

Die Anklage stützte sich tatsächlich auf die Anschuldigung, Keller habe das Lager außerhalb des Zuständigkeitsbereichs seiner Gemeinde veranstaltet – sowohl in räumlicher Hinsicht als auch dadurch, dass einige Teilnehmer zu anderen Gemeinden gehörten, weshalb er das Lager beim Sekretär für Kirchenfragen hätte anmelden müssen. Zhořec gehörte allerdings zu Kellers Pfarrei Černošín, weshalb der erste Teil des Vorwurfs gegenstandslos war. Des Weiteren sollte es sich nach Meinung der Anklage um Religionsunterricht gehandelt haben, welcher der vorherigen Zustimmung des Sekretärs unterliege. Die Verteidigung dagegen beharrte auf der bereits erwähnten Behauptung, es habe sich um eine regelmäßige und öffentliche Zusammenkunft gottesdienstlichen Charakters in Form einer katechetischen Versammlung gehandelt, für die keine besondere staatliche Genehmigung notwendig war und die nicht angemeldet werden musste. Senior Laštovka korrigierte vor Gericht seine frühere Aussage und stützte entschieden Kellers Argumentation, dass die Zusammenkunft aus den genannten Gründen nicht angemeldet werden musste.

Die erste Verhandlung fand am 27. 9. 1985 am Kreisgericht Tachov statt. Neben den Aussagen weiterer Zeugen wurden dabei auch die Zeugenaussagen der verhörten Kinder verlesen. Die Verhandlung wurde vertagt. In der Begründung stand, dass weitere Zeugenaussagen benötigt wüerden, z. B. die des Sekretärs für Kirchenfragen Ťupa, der aus gesundheitlichen Gründen nicht bei dieser Verhandlung erschienen war, aber auch den folgenden Verhandlungen fernblieb. Außerdem wurden weitere präzisierende sachkundige Aussagen vonseiten des Kulturministeriums der ČSR und eine Stellungnahme des Synodalrats dazu verlangt, worin eigentlich der Inhalt eines Gottesdienstes bestehet. Das Gericht ging also neben der Frage der rechtlichen Stellung der Kirche auf Antrag der Verteidigung tatsächlich darauf ein, sich mit Kellers Fall aus theologischer Sicht zu befassen, also in Bezug auf die Definition des Begriffs „Gottesdienst“.

Der Synodalrat definierte in seiner Antwort verschiedene Arten der kirchlichen Arbeit. Auch er stützte schließlich Kellers Verteidigung mit der Expertise, dass es sich in seinem Fall nicht um Religionsunterricht gehandelt habe, der nach einem verbindlichen Lehrplan strukturiert ist, sondern um eine geistliche Tätigkeit in Form einer Kinderkatechese, die öffentlich ist und deshalb keiner weiteren staatlichen Genehmigung bedarf. Diese Behauptung untermauerte er wiederum mit dem Verweis auf die entsprechenden Paragraphen, in denen nicht von einer zusätzlichen Genehmigung die Rede ist. Es ist wahrscheinlich, dass die 24. Synode der EKBB einen gewissen Einfluss auf diesen Schritt des Synodalrats hatte. Bei ihrer Sitzung sprach sich die Synode nach einer – wie es scheint – heißen Diskussion für die Lesart aus, dass Keller mit der Durchführung des Sommerlagers die Arbeit ausführte, zu der er berufen wurdeworden war. Der Synodalsenior und der Kurator vertraten in der Diskussion der Synode eine legalistische Sicht von Kellers Aktivitäten und argumentierten so im Geiste der Anklage zu seinen Ungunsten. Nachdem die Synode für die solidarische Unterstützung Kellers gestimmt hatte, stellte sich der Synodalrat dann aber hinter Keller und schickte knapp zwei Wochen nach der Synode die erwähnte Expertise zu seinen Gunsten.

Die nächste Verhandlung fand am 30. 1. 1986 wiederum am Kreisgericht Tachov statt. Beide Seiten argumentierten in einem ähnlichen Sinne wie im ersten Fall. Der Staatsanwalt beantragte, den Angeklagten für schuldig zu erklären und ihm unter Berücksichtigung der positiven Zeugnisse von seinen Arbeitgebern (unter anderem vom Direktor des Sägewerks, in dem Keller zu dieser Zeit arbeitete) und seiner bisherigen Unbescholtenheit eine „erzieherische Strafe in der halben Höhe des regulären Satzes“ aufzuerlegen. Für die Anklage wirkte sich allerdings die Uneindeutigkeit der Gesetze, die den Wirkungsbereich der Kirche festlegten, ungünstig aus. Die Anmeldepflicht konnte nicht überzeugend belegt werden. Der Sekretär des Synodalrats Miroslav Brož, der den Prozessverlauf festhielt, wertete Kellers Schlussplädoyer als „Zeugnis“. Den Abschluss bildete Kellers Bekenntnis zu seinem Gehorsam gegenüber Gott und in der Folge auch gegenüber der staatlichen Macht: „Die Autorität des Wortes Gottes führt zur wahren Achtung der menschlichen Gesetze.“ Die Verhandlung endete mit einem vollständigen Freispruch. Da der Staatsanwalt Berufung gegen das Urteil einlegte, wurde der Prozess am 3. 2. 1986 mit einer weiteren Verhandlung am selben Ort fortgesetzt.

Auch bei dieser Verhandlung, bei der JUDr. Jan Kříž den Vorsitz führte, wurde Jan Keller in vollem Umfang freigesprochen. Das Gericht schloss sich in der Begründung seines Urteils tatsächlich der Behauptung der Verteidigung an, dass die „Veranstaltung ausschließlich gottesdienstlichen Handlungen diente“, als solche öffentlich war und keiner Anmeldung oder zusätzlichen Genehmigung bedurfte. Das Gericht gab Keller und seinen Unterstützern also völlig unerwartet Recht und sprach sich in diesem Falle für die kirchliche Versammlungsfreiheit aus. Der Staatsanwalt legte zwar erneut Berufung gegen das Urteil ein, diese wurde aber von Richter Zdeněk Holý am Bezirksgericht Plzeň abgewiesen.

Dieser Fall bestätigt die oben aufgestellte Behauptung, dass viele Schritte der kommunistischen Staatsverwaltung nicht das Ergebnis eines einhelligen Vorgehens in einem homogenen System waren, sondern oftmals von Einzelnen abhingen. An Kellers Beispiel zeigte sich auch, dass man sich mit einer entschlossenen Haltung nicht nur eine Reihe behördlicher Sanktionen einhandeln, sondern auch – wenn auch nur kleine, dafür aber wichtige – Erfolge erringen konnte. Allerdings hatte in der Zeit des abschließenden Urteils der allmähliche Zerfall der kommunistischen Staatsführung bereits eingesetzt und aus diesem Grund auch die Einengung der kirchlichen Aktivitäten nachgelassen. Auch diese Entwicklung war aber nicht einheitlich und unter anderem von den Sekretären für Kirchenfragen vor Ort abhängig. Im Übrigen gewann Keller zwar den Gerichtsprozess, aber die Genehmigung zum Pfarrdienst erhielt er bis zu Wende nicht mehr. Von Černošín zog er bereits 1984 mit seiner Familie auf das Bauerngut Zbytov.

Zbytov

Wie schon erwähnt organisierte Jan Keller immer die Begegnungen der evangelischen Jugend aus seiner Gemeinde und der weiteren Umgebung. Er fuhr mit den Jugendlichen in den Ferien zum Paddeln, zu Freizeiten und Arbeitsrüstzeiten. Zum Mittelpunkt dieser Begegnungen wurde schließlich eben jenes Bauerngut Zbytov in der Nähe des Ortes Jimramov. Familie Keller kaufte es 1978 in desolatem Zustand zusammen mit dem Ehepaar Dorkas und Vojen Syrovátka als Ort für Jugendbegegnungen. Sie wollten dort für den Fall, dass sie die staatliche Genehmigung verlöieren – was sich bei Keller schon bald bewahrheitete –, auch Wohnraum schaffen. Die Renovierungs- und Umbauarbeiten für die eigene und gemeinsame Nutzung dauern bis heute an. Den größten Teil der Arbeit leisteten die Bewohner des Bauerngutes selbst und mithilfe von Arbeitseinsätzen der evangelischen Jugend. So waren die ersten Begegnungen, die an diesem Ort stattfanden, auch Arbeitseinsätze zu diesem Zweck. Diese fanden, ähnlich wie die erwähnten evangelischen Arbeitsrüstzeiten, in einem gemeinschaftlichen Geist statt, wobei die Arbeit mit christlichen Betrachtungen, einem kulturell-intellektuellen Programm und Freizeitaktivitäten verbunden wurde. Im Laufe der Zeit bildete sich um das Gut Zbytov eine offene Gemeinschaft von Menschen. Dies schuf im Rahmen der EKBB einen gewissen nonkonformen Raum. Es zählten auch Personen zu dieser Gemeinschaft, die nicht der Kirche angehörten. Die Nonkonformität war jedoch nicht durch die Abgrenzung gegenüber einer anderen Art der Gemeinschaft gekennzeichnet, eher durch den Respekt vor freien Begegnungen und Selbstäußerungen. Einen wichtigen Platz hatte hier auch die solidarisch-kritische Meinungsäußerung gegenüber den kirchlichen und politischen Verhältnissen. Dabei waren die Türen aber immer für alle offen, und zögernd kamen auch einige von denen, die versuchten, in der bestehenden Situation vorsichtiger zu agieren als Familie Keller. Schon bald geriet Zbytov ins Visier der Staatssicherheit und weckte das Missfallen der staatlichen Behörden. Den Versuchen, die Begegnungen auf dem Gut zu verhindern, hielt der Ort jedoch stand. Im Unterschied zu einigen ähnlich gearteten Zentren behielt Zbytov seine Bedeutung bis heute, und nach 1989 kamen auch Menschen dorthin, die diesen Ort früher gemieden hatten. Das Altersspektrum erweiterte sich im Laufe der Zeit und wurde generationsübergreifend.

Dem Umstand, dass bei Jugendtreffen der gemeinsame Gesang immer eine wichtige Rolle spielte, ist die Entstehung des Liederbuchs Nová píseň (Das neue Lied) zu verdanken. In den siebziger und achtziger Jahren waren einige evangelische Pfarrer, wie Miloš Rejchrt, Bohdan Pivoňka, Svatopluk Karásek u. a., musikalisch besonders produktiv. Keller zitiert den Letztgenannten: „Sváťa Karásek sagte: Als er nicht predigen durfte, habe er Lieder geschrieben, wenn er predigen könne, schreibe er keine Lieder mehr.“ Aus ihren Liedern, ins Tschechische übersetzten Spirituals und anderen Liedern stellte Jan Keller vor allem gemeinsam mit den bereits erwähnten Pfarrern Pivoňka und Hlaváč für die Jugendbegegnungen nach und nach ein Liederbuch zusammen und vervielfältigte es. Mithilfe von Freunden aus der Niederländischen Reformierten Kirche erschien dieses Liederbuch schließlich als Büchlein mit flexiblem Einband, wurde über die Grenze geschmuggelt und war viel in Benutzung. Später bildete es die Grundlage für das bis heute viel genutzte evangelische Liederbuch Svítá (Es tagt).

Vor und nach der „Samtenen Revolution“

In der Zeit ohne staatliche Zulassung arbeitete Keller in verschiedenen Berufen als einfacher Arbeiter, z. B. als Heizer. Am häufigsten denkt er heute aber an die Arbeit im Sägewerk zurück. Das dort in Bezug auf die Arbeit mit Holz Erlernte konnte er bei der Instandsetzung des großen Zbytover Gehöfts gut gebrauchen. Im Laufe der Zeit bauten sie dort eine Tischlerwerkstatt und eine kleinere Marionettenwerkstatt für Kellers Frau Marta auf. In der gesamten Zeit des Berufsverbots widmete er sich, wie bereits beschrieben, weiter der Jugendarbeit.

Eine auf den ersten Blick paradoxe Wendung nahm Kellers Leben nach dem November 1989. Bis dahin verhandelte er mit fünf verschiedenen Gemeinden über seinen Dienstantritt. Die ganze Zeit über wurde er vom Synodalrat in seinem Bemühen unterstützt. Der Staat verhinderte aber immer wieder, dass er seinen Dienst als Pfarrer antratantreten  konnte. Schließlich brach er diese aussichtslosen Bemühungen wegen des zeitlichen und seelischen Aufwandes im Frühjahr 1989 bis auf Widerruf ab. Als es im November 1989 zu Demonstrationen kam, arbeitete er gerade als Heizer. Nachdem er in Nové Město na Moravě spontan zum Demonstrationsredner avanciert war, beteiligte er sich in Jimramov an der Arbeit der Ortsgruppe des in Gründung begriffenen „Bürgerforums“ (Občanské fórum), einer politischen Bewegung, die damals ein wichtiger politischer Akteur war. Später wurde er als Bürgermeister für Jimramov vorgeschlagen und gewählt. Das Amt des Bürgermeisters bekleidete er über zwei Wahlperioden hinweg bis zum November 1998 – in einer Zeit, in der sich die tschechische Demokratie in den ungeordneten Verhältnissen nach der Wende rasch orientieren musste.in der Zeit, wann die tschechische Demokratie sich wild bemühte, zurechtzufinden. Seinen Amtsantritt beschreibt er folgendermaßen:

„Das letzte Mal war ich zuvor am 21. August im Rathaus gewesen, als ich von den Stasileuten dorthin einbestellt worden war (…...), sie hatten mich zum Verhör vorgeladen. Danach war ich nicht mehr dort, bis mich eine Ärztin und noch ein Mitglied des Bürgerforums ins Rathaus führten und dem Vorsitzenden zu Verstehen gaben, dass er gehen soll und dass ich jetzt dort sein werde. Er wusste schon, dass wir kommen, und legte mir ein Papier zur Unterschrift vor, mit der ich die materielle Verantwortung für eine Million Kronen oder wie viel übernahm, und er gab mir die Schlüssel vom Auto und vom Büro, sagte ,Auf Wiedersehen‘ und ging. Er hätte nicht gehen müssen. Wir hätten ihn nicht dazu zwingen können. Tja, und ich setzte mich dort hin und hatte nichts zu tun …“[12]

Die Arbeit nahm aber mit der Zeit zu. Keller setzte so seine theologische Überzeugung von der Verflechtung des kirchlichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens in die Praxis um, indem er gleichzeitig die Funktion des Bürgermeisters von Jimramov und des Pfarrers im nahegelegenen Veselí ausfüllte.

Ab den neunziger Jahren, Veselí und Humpolec

In der Toleranzgemeinde im Dorf Veselí war er in dieser Phase zwei Jahre lang in Teilzeit als Pfarrer tätig. Nach Veselí kehrte er noch einmal Ende der Nullerjahre des neuen Jahrtausends zurück. Nachdem er es abgelehnt hatte, erneut als Bürgermeister zu kandidieren, um nach eigenen Worten anderen Platz zu machen, zog er mit seiner Frau von Zbytov für sechs Jahre nach Humpolec um. Die dortige Arbeit war nicht leicht, denn den Kern der einst großen Toleranzgemeinde hatten früher Unternehmer gebildet – Weberei-, Wollfabrik- und Bergwerksbesitzer –, die im Zuge der Kollektivierung nach dem Februar 1948 den harten staatlichen Repressionen zum Opfer fielen und deren Familien in dieser Zeit aus Humpolec weggezogen waren, sodass die Gemeinde allmählich schrumpfte. Der Kern der Gemeinde war also Keller zufolge zerfallen, es fehlte die junge Generation und es gelang auch in seiner Zeit nur schwer, den inneren freien Willen zur Erneuerung zu wecken. Trotzdem versuchte er, die Gemeinde für die Stadt zu öffnen und veranstaltete verschiedene öffentliche Zusammenkünfte, Gesprächsrunden und Vorlesungen. Eine gewisse Zeit widmete er sich dort auch dem Pfarrdienst im Gefängnis Světlá nad Sázavou. Die Der Gefängnisdienst, den die Kirche in der Zeit des Kommunismus vergeblich eingeklagt hatte, ist eine Errungenschaft aus der Nachwendezeit.

Keller hatte von 2000 bis 2003 auch den Vorsitz des „Vereins evangelischer Prediger“ (SPEK) inne. Der Verein kümmert sich in erster Linie um die soziale und ökonomische Lage der Pfarrer und ihrer Familien und ist außerdem für die Organisation der Pfarrertreffen und die Vermittlung der Kommunikation mit ausländischen Kollegen und dem Synodalrat zuständig. Der SPEK knüpfte 1989 an die Arbeit seines Vorgängerverbandes SČED an, der aufgrund eines Beschlusses des Innenministeriums der ČSSR 1974 aufgelöst worden war.

Heute:

Von Humpolec kehrten die Kellers nach Zbytov zurück. Nach einem Jahr Dienst in Veselí ist Keller im aktiven Ruhestand, in dem er sich dem Zbytover Gehöft widmet. Er kümmert sich um technische Fragen und stellt das Gut für Begegnungen zur Verfügung, deren Organisation er allerdings in der Regel Jüngeren überlässt. Jan Keller wird weiterhin an verschiedene Orte eingeladen, um dort Sonntagsgottesdienste zu halten oder Paare zu trauen, die ihn darum bitten. Seine Frau Marta fertigt Holzmarionetten und beteiligt sich an der Verwaltung des Lagers in Běleč nad Orlicí. Das Leben der beiden ist nach wie vor eng mit dem vielfältigen Leben der Kirche und dem Leben ihrer eigenen großen Familie verbunden.

Jan Keller widmete sein Leben der Begegnung mit Menschen und der Vermittlung von Begegnungen zwischen anderen Personen. Dies tat er sowohl in den Zeiten, in denen er als Pfarrer tätig war, als auch in der Zeit ohne staatliche Genehmigung und später auch als Bürgermeister von Jimramov. Er setzte dabei seine bemerkenswerte Fähigkeit ein, auch zu den Menschen einen Weg zu finden, die gegensätzliche Standpunkte einneahmen. In seiner Arbeit legte er Wert auf die Verbindung zwischen kirchlichem und gesellschaftlichem Leben, besonders zwischen der kirchlichen und politischen Gemeinde vor Ort. Dies alles durchlebte er gemeinsam mit seiner Frau Marta. 

Quellen

Archiv bezpečnostních složek, Band a. Nr. 830042 MV.

Archiv Evangelické teologické fakulty Univerzity Karlovy, Digitální sbírka rozhovorů

„Faráři a laici ČCE, 1968–89“,

  • Gespräch von Michael Pfann mit Jan Keller, 3. 7. 2015.
  • Gespräch von Michael Pfann und Peter Morée mit Jan Keller, 8. 7. 2015.

Archiv Farního sboru ČCE Jimramov.

Archiv Farního sboru Sázava.

Archiv Horáckého seniorátu.

Archiv Poděbradského seniorátu.

Ústřední archiv ČCE, Fond Synodní rady ČCE, Dokumenty 24. synodu ČCE.

Ústřední církevní kancelář ČCE, personální oddělení, registratura personálních složek, Jan Keller – Osobní složka.

Národní archiv ČR, Fond SPVC MK, Karton 204 und 212.

 

[1] Archiv der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Karlsuniversität, Digitale Interviewsammlung „Faráři a laici ČCE, 1968–89“ (Pfarrer und Laien der EKBB, 1968–89),Archiv der ETF UK, Digitale Gesprächssammlung „Pfarrer/Innen und Laien/Innen der EKBB“ 1968–1989,  das Gespräch mit Jan Keller führte Michael Pfann, 3. 7. 2015.

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] Archiv der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Karlsuniversität, Digitale Interviewsammlung „Faráři a laici ČCE, 1968–89“ (Pfarrer und Laien der EKBB, 1968–89), das Gespräch mit Jan Keller führten Michael Pfann und Peter Morée, 8.7.2015.

[7] Interview mit JK, 3. 7. 2015.

[8] Ebd.

[9] Interview mit JK, 3. 7. 2015.

[10] Interview mit JK, 3. 7. 2015.

[11] Ebd.

[12] Interview mit JK, 8. 7. 2015.