Einleitung

Pavel Keřkovský, Pavel Hlaváč

Sehr geehrte, liebe Schwestern und Brüder der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, die Publikation, die Sie nun in Händen halten, gibt Ihnen die Möglichkeit, einen Blick über den Zaun zu Ihren Nachbarn in der Tschechischen Republik zu werfen, mit denen Sie neben zahlreichen langjährigen, persönlichen, brüderlichen Kontakten und freundschaftlichen Beziehungen auch der wichtige „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ vom 27. Februar 1992 und die spätere „Deutsch-tschechische Erklärung“ von 1997 verbinden.

Sie finden in diesem Band Texte aus der tschechischen Editionsreihe „Der Weg der Kirche I.–IX.“, die aus fünfzehn Jahren Arbeit der Kommission „Der Weg der Kirche von 1945 bis 1989“, eines Gremiums der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB), hervorgegangen ist. Die Texte befassen sich mit dem kirchlichen Leben in der Nachkriegszeit (1945–1948) und während der gesamten totalitären Periode (1948–1989), die mitunter auch als Zeit der „Diktatur des Proletariats“ bezeichnet wird, was damals, als Tschechien und die Slowakei noch einen Staat bildeten, faktisch eine Diktatur der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei bedeutete.

Die Struktur der deutschen Publikation entspricht dem inhaltlichen Aufbau der tschechischen Reihe „Der Weg der Kirche I.–IX.“. Deshalb sind die Texte in vier Rubriken unterteilt: Studien, Porträts, Erinnerungen, Dokumente. Die meisten Beiträge wurden von Mitgliedern der Kommission verfasst, nachdem sie von der Synode der EKBB den entsprechenden Auftrag erhalten hatten. Die Erinnerungen wurden uns von dankbaren Lesern unserer Editionsreihe „Der Weg der Kirche“ zugeschickt, die von 2009 bis 2018 dank der finanziellen Unterstützung durch die Zentrale der EKBB sowie dank der großzügigen Hilfe Ihrer Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern erschienen ist.

Die ausgewählten Texte schildern vor allem das Ringen der EKBB mit den staatlichen Behörden sowie die Probleme im deutsch-tschechischen Verhältnis, die der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit hervorgebracht haben und die lange ungeklärt blieben. Die Auseinandersetzungen unserer Kirche mit dem kommunistischen Regime bedeuteten einen Kampf um die nackte Existenz, denn das langfristige Ziel der kommunistischen Ideologen war die Auflösung der Kirchen und die Umerziehung der Gläubigen zur wissenschaftlichen Weltanschauung marxistisch-atheistischer Prägung. Dieses Ziel wurde durch die tschechoslowakische Verfassung von 1960 legitimiert. Erst das Jahr 1989 (Samtene Revolution und Fall der Berliner Mauer) verhalf vielen Kirchenmitgliedern und den kirchlichen Institutionen wieder zu einem aufrechten Gang. Erst nach 1989 waren wir in der Lage, uns wieder den Wunden zuzuwenden, die noch nicht verheilt waren. Deshalb ergriff die Kirche bei den Vorbereitungen zum „Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ zwischen Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik die Initiative und unterstützte auch die „Deutschtschechische Erklärung“ von 1997.

Wir sind dankbar, dass wir auch mithilfe Ihrer Unterstützung in den Archiven recherchieren und versuchen konnten, die dort gefundenen Dokumente aus unserer Sicht zu interpretieren. Nun gelangen sie auch in Ihre Hände. Es handelt sich um den ersten Versuch unserer Kirche, eine komplexere Vergangenheitsbewältigung zu leisten. Wir wurden dabei insbesondere von den biblischen Zeugen darin bestärkt, uns nichts vorzugaukeln und nicht vor der Erkenntnis zurückzuschrecken, dass wir oft geschwiegen haben, wo wir die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden hätten mehr unterstützen sollen. Wir hätten mehr für die politischen Gefangenen und ihre Familienangehörigen tun, entschiedener für die verleumdeten, diskreditierten und ideologisch kompromittierten Kinder in den Schulen und Kollegen in den Betrieben eintreten müssen. Unser Verhältnis zur Vergangenheit kommt in einem Brief der XXVII. Synode vom 20. 6. 1991 zum Ausdruck, der an die internationalen ökumenischen Gremien adressiert war: „Die Synode betraut den Synodalrat damit, dem Weltkirchenrat, dem Reformierten Weltbund, dem Lutherischen Weltbund und der Konferenz Europäischer Kirchen folgende Botschaft zu senden: Wir bedauern, dass wir die weltweite Ökumene in der Vergangenheit nicht wahrheitsgemäß über die Verhältnisse in unserem Land in der Zeit der Diktatur der Kommunistischen Partei informiert haben. Wir haben die Manipulationen vonseiten der Machthaber verschwiegen, denen wir als Bürger und als Kirche zum Opfer gefallen sind. Dadurch führten wir – besonders in der Dritten Welt – viele Brüder und Schwestern auf Abwege, die durch unsere Schuld den Eindruck gewinnen konnten, dass der sog. real existierende Sozialismus ein tragfähiges Modell für die Lösung der Probleme unserer gegenwärtigen Welt ist.“

Deshalb befasst sich diese Publikation nicht mit dem kirchlichen Establishment und den offiziellen kirchlichen Medienproduktionen, den vom Staat genehmigten kirchlichen Publikationen, Zeitschriften und Zeitungen. Eher bieten wir einen Einblick in die Lebenskämpfe derer, die zum Schweigen gebracht wurden oder sich unter der Herrschaft der Kommunisten nicht zur Wehr setzen konnten, denn die säkularen und kirchlichen Chefredakteure fürchteten sich abzudrucken, was kritisch war und von der staatlichen Zensur nicht genehmigt worden wäre. Vielleicht hilft Ihnen unsere Publikation dabei, manche Geschichten Ihrer Brüder und Schwestern aus der ehemaligen DDR zu verstehen, die diese Jahre unter einem ähnlichen politisch-ideologischen Druck erlebt haben. Unsere Arbeit ist die erste systematische Untersuchung und wir sind Ihnen dankbar für Ihre Unterstützung durch Gebete und Spenden, denn unsere Arbeit stieß in unserer Kirche nicht immer auf einhellige Zustimmung. Manche sind der Meinung, dass sich die Kirchen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts nicht mehr für die „ferne Vergangenheit“, sondern für die Gegenwart und die Zukunftsprognosen interessieren sollten. Sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass wer „sich seiner Geschichte nicht erinnert“, sehr wahrscheinlich dazu verurteilt ist, „sie erneut durchleben zu müssen.“ Vielen unserer Kollegen und Freunde ist nicht bewusst, dass die gegenwärtigen Probleme in den Bereichen Liturgie, kirchliche Verwaltung, kirchliche Medien und Katechetik ihre Wurzeln in der kommunistischen Vergangenheit haben. Oft versündigen wir uns dadurch, dass wir uns nicht eines Besseren belehren lassen und die gesellschaftlichen und medialen Irrtümer unserer Vorfahren wiederholen.

Hoffnungsvoll und dankbar legen wir Ihnen hier die Publikation „Der Weg der Kirche X.“ vor, verbunden mit dem Wunsch, dass wir uns auch in Zukunft auf der Ebene der offiziellen, der kirchlichen und der brüderlich-nachbarschaftlichen Zusammenarbeit begegnen mögen.