Die Vertreibung der Deutschen 1945–1946–1947

Pavel Hlaváč, Michael Pfann
Die Vertreibung bzw. Aussiedlung der deutschen Bewohner aus dem Gebiet der Tschechoslowakei in der Nachkriegszeit traf damals auch in der EKBB nicht auf entschiedene Gegenwehr, eher im Gegenteil. Hier sollen zumindest einige Stimmen aus jener Zeit zu Wort kommen, die zwar die Vertreibung als solche nicht verurteilen, aber zumindest ihren gewaltsamen Verlauf – wenn auch vielfach nicht sehr nachdrücklich – kritisch hinterfragen. Die entschiedensten Vorbehalte gegen den Ablauf der Vertreibung sind beim späteren Theologieprofessor Rudolf Říčan und in einem Memorandum des Seniorats Hradec Králové zu finden. Außerdem veröffentlichen wir eine Resolution des sich damals gerade formierenden Weltkirchenrats und die verhaltene Antwort des Synodalrats auf diese Resolution. Mit einem Abstand von zwei Jahren blickten der Christliche Studentenrat und der Tschechoslowakische YMCA kritisch auf die bei der Vertreibung der Deutschen verübte Gewalt und sie bekannten sich auch zu ihrer eigenen Schuld. Der Synodalrat tat dies wiederum in einer Erklärung anlässlich des zweijährigen Jahrestages der Befreiung der Tschechoslowakei.

Rudolf Říčan zum Thema Vertreibung

Das Ende des Krieges erlebte Dr. Rudolf Říčan im Pfarrhaus in Bohuslavice, wo er seit dem 1. April 1935 Pfarrer war. Gleichzeitig war er Dozent für Kirchengeschichte an der Tschechoslowakischen Theologischen Hus-Fakultät in Prag. Unter dem Eindruck der Gewalttaten, die von den siegreichen Tschechen gleich in den ersten Tagen nach dem Krieg an den besiegten Deutschen verübt wurden, schickte er bereits am 26. Mai 1945 einen Brief an Justizminister Jaroslav Stránský.[1]Er gibt an, vertrauensvoll und offen zu schreiben, was er auch seinem Onkel E. P. Lány geschrieben hätte,2 bei dessen Beerdigung Stránský gesprochen hatte:

„Das Unrecht, das uns – angefangen mit München – geschehen ist, das Leiden unserer Nation während des Krieges – das alles verschaffte uns eine gewisse moralische Qualifikation. (…) Aber viele Dinge, die nun bei uns geschehen, belasten unser Gewissen und drohen, uns diese Qualifikation wieder zu nehmen. Es geht um eine Welle der Brutalität. (…) Es zeigt sich daran, dass man auf der Straße bei uns auch das Minimum an menschlichem Mitgefühl, das wir dem Menschen schuldig sind, auch das bloße Reichen von Wasser an einen sterbenden Deutschen, als verdammenswerte Freundschaft zum Feind klassifiziert. (…) Sechs Jahre baten wir Gott um Gerechtigkeit für unseren Feind und er erhörte uns. Er bestrafte ihn vor unseren Augen. Ich bitte Sie, verwenden Sie sich dafür, dass niemand heute oder morgen das Recht hat, Gott anzurufen, um uns für unsere Brutalität zu strafen. Ermutigen Sie mit Ihrem Wort diejenigen, die durch den Ausbruch des Zorns verschreckt sind, damit sie den Mut finden, ihre Umwelt zu besänftigen.“

Im Oktober 1945 predigte Rudolf Říčan über den Text 2. Chr 28,10: „Ist denn das nicht Schuld bei euch gegenüber dem HERRN, eurem Gott?“ Hier ein Ausschnitt aus der damaligen Predigt:[2]

„Wenn wir also wegen der schrecklichen Spannungen und des tödlichen Kampfes der letzten Jahre das Zusammenleben beenden, das siebenhundert Jahre Bestand hatte, lasst es uns so tun, dass wir noch dem Blick von Schlick und Bolzano standhalten können. Machen wir den Praktiken ein Ende, die das erste halbe Jahr unserer neuen Republik mit dem vorwurfsvollen Schatten einer übergroßen Härte und mit den zahlreichen Fehltritten der Menschen verdüsterten, für die wir uns schämen und die wir als Aasgeier davonjagen – erst nun, da sie so viele Gewalttaten auf unsere moralische Rechnung begangen haben. Nicht nur wegen des Eindrucks, den es im Ausland erweckt, sondern aus Gewissensgründen revidieren wir die Art des Transfers und der Vorbereitungen auf ihn. Ist es nötig, die Deutschen so überstürzt aus ihren Wohnungen zu vertreiben? Wie lebt man in den Sammellagern und wie lebt es sich dort im Winter? Müssen bei den Konfiskationen so viele Habseligkeiten beschlagnahmt werden? (…) Legen Sie 30 kg von Ihren Sachen auf einen Haufen und beurteilen Sie selbst, ob es menschlich ist, (…) die Leute in die Kälte gehen zu lassen, in ein vom Krieg verwüstetes Land, mit so wenig Habe. Sollen wir so hunderttausende Frauen und Kinder entlassen, die wir nur der Kollektivschuld ihres Deutschtums anklagen? Ist das unser Beitrag zur Umerziehung der Deutschen? Oder haben wir uns schon so vom Nationalsozialismus infizieren lassen, dass wir nicht in der Lage sind zu begreifen, welcher Weg zu einem besseren Menschen führt? Ist denn das nicht Schuld bei euch? Wie erziehen wir eigentlich unser eigenes Volk durch die plötzliche Bereicherung so vieler Landsleute? In Samaria nahmen sie die judäischen Gefangenen und alle unter ihnen, die nicht gekleidet waren, kleideten sie. Gekleidet, mit Schuhen und gesättigt führten sie die Gefangenen an die Grenze ihres Landes und für die Kranken nahmen sie Saumtiere. Bei uns würden schon überdachte Waggons der Tschechoslowakischen Bahn genügen. Fragen Sie sich, wie es damals mit den geretteten Judäern und den großmütigen Israeliten ausging? In beiden Fällen ging es nicht gut aus. Das göttliche Gericht ist unbestechlich, auch die müssen vor ihm zittern, die sich ab und zu eines Besseren belehren lassen. Und erst recht diejenigen, die sich taub stellten. Hoffnung gibt es beim Gottesgericht nur eine: die göttliche Barmherzigkeit.“

Memorandum des Konventes des Königgrätzer Seniorats der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder vom 1. XI. 1945[3]

„Wir sind uns bewusst, was die politische Freiheit für die Kirche bedeutet, denn in der Zeit der Fremdherrschaft war auch die Arbeit der Kirche bedroht. Wir wissen, dass ohne den tapferen Widerstand der Bekennenden Kirche in Deutschland in den früheren Jahren auch unserer Kirche die Macht der nazistischen Herrschaft schwerer fühlbar geworden wäre. Wir wissen auch, dass ein allfälliger Sieg dieser bösen Macht einen konzentrischen Angriff auf das Christentum bedeute hätte. Deshalb freuen wir uns über die Erneuerung unseres selbständigen Staates, welcher auf demokratischer Grundlage herrschen will und damit den Bekennern des Evangeliums die Möglichkeit, das Recht und die Pflicht gibt, die Nation und den Staat an die Grundsätze des christlichen Lebens zu erinnern. Freudig nehmen wir zur Kenntnis, dass die Regierung entschlossen ist, die soziale Gerechtigkeit in weitestem Maße zur Geltung zu bringen, und gerne und aufrichtig wollen wir im Dienste des Evangeliums mitarbeiten.

In unsere Freude über die politische Befreiung drängt sich aber schwer die tiefe Sorge und Betrübnis über die sittlichen Fehler, welche sich in unserem Volk nach dem sechsjährigen Leben in der Sklaverei und des Umbruches zeigen und darüber, wie sie sich besonders in unserem Grenzgebiet vermehren. Es erfüllt uns die Sorge um unser Volk bei dem Blick auf das bisherige Vorgehen gegen die Deutschen in unserem Gebiete, das wir nicht für christlich halten können. Wir glauben nicht, dass es möglich ist, unseren Staat anders zu sichern, als durch die Befolgung der Gebote Gottes. Gottes Gesetz verlangt Gerechtigkeit, es lässt aber bei ihrer Ausübung keine Rücksichtslosigkeit zu und schließt niemals die Barmherzigkeit aus. Wir halten die Großmut für ein notwendiges Kennzeichen eines wirklichen Friedens und lehnen den Gedanken einer rachsüchtigen Vergeltung ab, welcher auch politisch dem erwünschten Ziele, zur rechten Zeit eine wirkliche Vereinigung der Weltvölker zu bilden, widerstrebt.

Deshalb begrüßen wir aus ganzer Seele die kürzlichen Erklärungen des Präsidenten der Regierung und namentlich die Erklärungen des Präsidenten der Republik vom 11. und 28. Oktober 1945, welche die Pflicht einer humanen und würdigen Behandlung der Deutschen betonen und verlangen, dass dieses Programm tatsächlich ins Leben geführt wird, damit Gottes Zorn nicht herabsinke auf unseren Staat. Wir legen es deshalb unserem Volke und allen seinen verantwortlichen Faktoren auf das Gewissen, dass die A b s c h i e b u n g der Deutschen nicht im Winter, unter Bedingungen durchgeführt wird, welche die Gesundheit und das Leben der Auszusiedelnden bedrohen, dass eine gehörige Gesundheitsfürsorge um sie vor ihrer Evakuierung eingehalten wird, dass ihre Familien nicht zerrissen werden, dass ihnen beim Abgang ein mehrfach größeres Maß an Fahrnissen belassen wird, als es bisher gewöhnlich geschieht.

Soweit das deutsche Eigentum gerecht konfisziert ist, verlangen wir, dass es voll zum Vorteil des Staates ausgenützt wird, welcher aus diesem Eigentum vor allem die durch die Persekution und den Krieg schwer betroffenen Opfer entschädigen soll, was wir für die vorderste sittliche Begründung der Konfiskation ansehen. Wir sind Zeugen sittlicher Verkommenheit, mit welcher manche unserer Glieder unter Umständen das Eigentum im Grenzgebiete an sich bringen, wie manche Bürger ungesetzlich oder s… [schlecht lesbares Wort, Anm. d. Hrsg.] leicht bewegliches und unbewegliches Eigentum, welches bisher den Deutschen gehörte, erwerben. Wir verlangen eine solche Regelung, welche das Gewissen unseres Volkes nicht abstumpft. Unsere Glieder fordern wir dringend auf, dass sie sich aller Gebote Gottes erinnern, dass sie nicht stehlen und an keiner wie immer verhüllten Unehrlichkeit teilnehmen, dass sie niemandem Gewalt antun, dass sie sich nicht fürchten, für die Gerechtigkeit einzutreten, und jedes mögliche Unrecht und jede von welcher Seite immer kommende Raffgier verhindern. Wenn wir selbst reine Hände haben, tragen wir nach unseren Kräften, jeder an seiner Stelle, zur Reinigung des öffentlichen Lebens bei! Das ist sicher eine notwendige Aufgabe der Volksdemokratie, welche in solchem Maße die Verantwortlichkeit dem Volke selbst auferlegt hat.

Als Kirche halten wir es nur in dem Sinne für zulässig … [schlecht lesbares Wort, Anm. d. Hrsg.], uns des Eigentumes der Deutschen evangelischen Kirche anzunehmen, dass wir damit zugleich die seelsorgerische Fürsorge über die verbleibenden Glieder der Deutschen Kirche in möglichst weitem Umfang auf uns nehmen. Wir bedauern, dass wir nicht schon früher genügend Standhaftigkeit gefunden haben, uns zu melden und sind dankbar dafür, wenn jemand von uns oder außer uns nach Wahrung der Gerechtigkeit ruft. Wir halten die Unehrlichkeit und Rücksichtslosigkeit für schwere Verfehlungen gegen die Demokratie und den sozialen Fortschritt und so für einen Dienst der Reaktion. Gerade deshalb, weil wir im Geiste des Evangeliums die Freiheit und soziale Gerechtigkeit schätzen und nach ihrer möglichst weitergehenden Verwirklichung streben, rufen wir uns und unsere Öffentlichkeit zu Spr 14,34: ,Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.‘“

Die Resolution des vorläufigen Ausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen zu den Umsiedlungsmaßnahmen[4] Februar 1946

„Die Potsdamer Konferenz hat beschlossen, dass alle Umsiedlungsmaßnahmen auf geordnete und menschliche Weise zu erfolgen hätten. Sie erkannte an, dass das Einströmen einer großen Zahl von Deutschen in das verkleinerte Deutschland die bereits von den Behörden des Landes getragene Last erheblich vermehren würde, und dass daher das Problem mit besonderer Berücksichtigung der gerechten Verteilung dieser Deutschen auf die einzelnen Besatzungszonen zu prüfen sei. Sie ordnete an, dass die Verteilung der Aussiedlung unter Berücksichtigung der bestehenden Lage in Deutschland auf eine bestimmte Zeitspanne abgeschätzt werde. Die Konferenz hat verlangt, dass während der Dauer dieser Prüfung von weiteren Vertreibungsmaßnahmen vorläufig abzusehen sei. Diese Vorschläge der Potsdamer Konferenz sind nicht ausgeführt worden; vielmehr haben die Umsiedlungsmaßnahmen große Härten, Not und Leid für Millionen Menschen, einschließlich sehr vieler Frauen und Kinder mit sich gebracht. […] Dieser Zustand ist eine Herausforderung des christlichen Gewissens; er hat die christlichen Kirchen erneut zu ihrer Verantwortung für die leidende Menschheit wachgerufen. Obwohl der V.A. anerkennt, dass neuerdings einige Anstrengungen zur Einhaltung der Bedingungen des Potsdamer Abkommens erfolgt sind, ersucht er dringlich die Alliierten Regierungen sowie die Organisation der Vereinigten Nationen, sofortige Maßnahmen zu ergreifen, um

  1. angemessene Hilfe für die bereits Ausgesiedelten sicherzustellen, die sich in Not und Elend befinden;
  2. um für die Einhaltung der Potsdamer Vereinbarung bei weiteren Aussiedlungsmaßnahmen zu sorgen, d.h. dass diese auf geordnete und menschliche Weise vor sich gehen; insbesondere, dass geeignete Transportmittel, persönlicher Schutz und angemessener Reiseproviant zur Verfügung stehen; dass geeignete Vorkehrungen im Voraus für den Empfang der Deportierten in ihrem Bestimmungsorte getroffen werden;
  3. um schließlich eine Aufsicht seitens der Organisation der Vereinigten Nationen über die Durchführung der zweckmäßigen Sesshaftmachung aller Ausgesiedelten in ihren neuen Heimstätten herbeizuführen.

Außerdem ist die Politik der an der Besetzung Deutschlands beteiligten Mächte, wenn auch noch unbestimmt und ohne Zusammenhang, dennoch deutlich auf eine so radikale Beschränkung der deutschen Industrie und Ausfuhr gerichtet, dass diese einzig und allein durch eine lange militärische Besetzung erzwungen werden könnte. Der V.A. ist überzeugt, dass diese Politik, die durch die zwangsmäßige Überführung großer Volksgruppen aus anderen Ländern in das verkleinerte Deutschland erschwert wird, nochmaliger Prüfung unterworfen werden sollte. Falls dies nicht geschieht, so wären Millionen von Deutschen dazu verurteilt, entweder auf unbestimmte Zeit als Wohlfahrtsempfänger ihr Leben zu fristen oder aber Hungers zu sterben, bis dass die überlebende Bevölkerung innerhalb der neuen Grenzen existieren kann. Solche Politik aber wäre nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa verderblich. Ferner bittet der V.A. die alliierten Regierungen und die Organisation der Vereinigten Nationen dringend, das altüberlieferte Asylrecht für politische Flüchtlinge, die keines gemeinen Verbrechens schuldig sind, neu zu bestätigen und durchzuführen, und diese Flüchtlinge vor zwangsweiser Heimschaffung gegen ihren eigenen Willen zu schützen.“

Stellungnahme der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder zur Resolution des Vorläufigen Ausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen[5] Februar 1946 „Der Synodalrat der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder hat beschlossen, zur Resolution der Konferenz des Weltrates der protestantischen und anderer Kirchen in Genf, welche die Abschiebung der Deutschen betrifft, an das Generalsekretariat dieses Rates ein ausführliches Memorandum zu schicken. Darin äußert der Synodalrat zwar sein Verständnis für die vom Weltkirchenrat gehegten Befürchtungen, dass die Abschiebung von gewalttätigen Handlungen begleitet werden könnte, gleichzeitig wird die Notwendigkeit begründet, durch die Abschiebung die Existenz des Tschechoslowakischen Staates zu sichern. Im Memorandum wird berichtet, dass die Tschechen während des Krieges sehr viel schlechter behandelt wurden als die Völker der besetzten Länder in Westeuropa. Tausende tschechische Landwirte wurden von ihren Höfen vertrieben, aus ganzen Landstrichen wurde die Bevölkerung komplett ausgesiedelt, nur um den Boden für die deutsche Kolonisierung zu bereiten. Nach dem gewonnenen Krieg sollte das tschechische Volk dasselbe Schicksal ereilen wie die Juden, es sollte aus seinen Ländern vertrieben und über die Welt verstreut werden. Wie groß das physische Leid des tschechischen Volkes während des Krieges war, weiß die Weltöffentlichkeit aus den Nürnberger Prozessen. Welche seelischen Qualen es durchlebte, ist unaussprechlich. Nach alldem ist es undenkbar, dass das tschechische Volk in einem Land mit denen leben könnte, die ein so grausames und unmenschliches Regiment über es führten. Der Synodalrat machte in seinem Memorandum auch darauf aufmerksam, dass der Übervölkerung Deutschlands durch einen Bevölkerungstransfer in die Überseeländer begegnet werden könnte und dass die Ablehnung europäischer Auswanderer aus Europa eine der Ursachen war, welche die wirtschaftliche Situation in Europa vor dem Zweiten Weltkrieg verschärften. Gleichzeitig versicherte der Synodalrat dem Weltkirchenrat, dass die verantwortlichen tschechoslowakischen Regierungsvertreter alles ihnen Mögliche dafür tun, damit die Abschiebung geordnet und menschlich vor sich geht, und dass sie darin die volle Unterstützung der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder haben. Der Synodalrat beschloss gleichzeitig, seinen Vertreter Dr. Křenek nach Großbritannien und in die Vereinigten Staaten zu entsenden, um Kontakte zu Vertretern aller dortigen protestantischen Kirchen anzuknüpfen und sie über die religiösen und politischen Verhältnisse in der Tschechoslowakei zu informieren.“

Gemeinsame Erklärung des christlichen Studentenrates[6] und des YMCA in der Tschechoslowakei[7]

„15. April 1947

Erschüttert und beschämt aufgrund zahlreicher Fälle von Unrecht, Brutalität und Gestapomethoden, zu denen es unter uns in unserem Staat gekommen ist und die in letzter Zeit an die Öffentlichkeit gelangten, gestehen wir ein, dass wir selbst nicht wachsam und mutig genug waren, um all dem Bösen, das von einigen unserer Mitbürger begangen wurde, zu wehren und es zu verhüten. Unser Standpunkt ist durch die Gebote und das Vorbild unseres Lehrmeisters und Retters Jesus Christus klar vorgegeben. Wir stehen auf der Seite derer, die sich mutig und furchtlos im Namen der Wahrheit und der Gerechtigkeit dem Machtmissbrauch, dem Unrecht und der moralischen Abstumpfung und Gleichgültigkeit entgegengestellt haben. Wir sind den Richtern, Journalisten und allen mutigen Menschen dankbar, die weder in den Wirren noch unter Druck ins Wanken geraten sind. Wir bieten ihnen unsere Hilfe an und ermutigt durch ihr Vorbild verpflichten wir uns, uns für die Durchsetzung der Wahrheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit einzusetzen.“

Erklärung des Synodalrats zum zweiten Jahrestag der nationalen und staatlichen Befreiung[8]

„Prag, den 24. April 1947

An alle Gemeinden der EKBB, alle Pfarrer, Vikare und Diakone. Bei seiner Sitzung am 22. April hat der Synodalrat beschlossen, eine Erklärung zum zweiten Jahrestag unserer nationalen und staatlichen Befreiung zu veröffentlichen und alle Geistlichen zu bitten, sie beim Gottesdienst am Sonntag, dem 4. Mai, von der Kanzel zu verlesen. Der Wortlaut der Erklärung ist folgender:

Der zweite Jahrestag unserer neuerlichen Befreiung veranlasst uns dazu, ein weiteres Mal unsere tiefe Dankbarkeit dafür zum Ausdruck zu bringen, dass ,der HERR Großes an uns getan hat‘. (Ps 126,2) Der zeitliche Abstand zu diesen Ereignissen darf nicht dazu führen, dass wir in unserer Dankbarkeit nachlassen und vergessen, aus welch großer Schmach, welch großem Leid und Elend wir durch die Gnade Gottes errettet wurden. Unser Volk kann mit Recht mit dem Psalmisten sagen: ‚Die Pflüger haben auf meinem Rücken geackert und ihre Furchen lang gezogen. Der HERR, der gerecht ist, hat der Frevler Stricke zerhauen.‘ (Psalm 129,3–4) Die Freude über diese großen Taten Gottes ist jedoch getrübt durch die Trauer darüber, dass es nicht nur in revolutionären Zeiten, sondern auch später bei uns zu Fällen kam, wo auch vonseiten unseres Volkes mit unnötiger Härte und Gefühllosigkeit vorgegangen wurde. Viele Einzelne ließen ihrem Egoismus und ihrer Gewinnsucht freien Lauf. Nicht wenige Tschechen erlagen der Versuchung und ahmten jene Methoden der Gewalt und der Willkür nach, die wir bei unseren Unterdrückern so scharf verurteilten. Wir vergaßen die wichtigste christliche Regel, die uns Christus selbst kundgetan hat: ,Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!‘ (Matthäus 7,12) Deshalb rufen wir die Mitglieder unserer Kirche auf, Gott gemeinsam in Freude und Dankbarkeit für unsere Befreiung zu bitten, uns alle diese unsere Sünden zu vergeben und uns nicht für sie zu bestrafen. Gleichzeitig erklären wir, dass wir mit unseren Sympathien, unseren Gebeten und unserer Arbeit hinter dem Präsidenten der Republik stehen, der verkündet hat, dass er einen Kampf für die Anwendung des Rechts in unserer Heimat führt, und hinter allen Menschen, die den Mut haben, auf die Lügen, Ungerechtigkeiten und Ausbeutung hinzuweisen, und die für die Ausrottung dieses Bösen aus unseren Reihen kämpfen. Wir glauben mit der Heiligen Schrift, dass ,Gerechtigkeit ein Volk erhöht; aber die Sünde der Leute Verderben ist‘ (Sprüche 14, 34). Wir bitten Gott, dass er unser Volk segne und es zu immer größerem Verantwortungsbewusstsein für die gewonnene Freiheit führe und dass das Wort des Gotteszeugen, des Meisters Jan Hus, unter uns wahr werde: Liebet einander und vergönnet jedem die Wahrheit.

Dr. Viktor Hájek, stellvertretender Synodalsenior

Dr. Josef Křenek, Synodalsenior

Dr. Antonín Boháč, Synodalkurator

Mitglieder des Synodalrats: Bohuslav Burian, Dr. Gustav Hrejsa, Amos Pokorný

 

[1] Zentralarchiv der EKBB (ÚA ČCE), Bestand Synodalrat (SR). Jetzt habe ich (P. Hlaváč) den Brief nicht gefunden, aber 1968, als ich Dokumente für meine schriftliche Abschlussarbeit als Pfarrer sammelte, hatte ich ihn im Synodalrat in der Hand. Der Brief mit seinem Appell gegen das Unrecht fesselte mich sehr, und obwohl ich ihn nicht für meine Arbeit benutzen wollte, schrieb ich mir die wichtigsten Passagen ab – in diesem Zusammenhang ist es nun angebracht, sie zu zitieren. 2JUDr. Emil Pavel Lány war Präsident des Obersten Landesgerichts in Prag und der Onkel von Rudolf Říčan. In den dreißiger Jahren betätigte er sich als Laienmitglied im Synodalrat der EKBB. Da er im Widerstand aktiv war, wurde er im Juni 1944 festgenommen und im Gefängnis in PragPankrác inhaftiert. Er wurde kurz vor der Befreiung am Nachmittag des 5. Mai 1945 vor dem Gerichtsgebäude umgebracht. Bei seinem Begräbnis am 19. Mai 1945 würdigte Minister Jaroslav Stránský seine Person und seine Arbeit. Der Nachruf wurde in der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Kostnické jiskry“ veröffentlicht, siehe: Evangelický týdeník: Kostnické jiskry. Praha: Kostnická jednota, 1945, 30, Nr. 9–10, 59.; außerdem in: ŠIMSOVÁ, Milena. Prošli jsme v jeho síle: evangelíci v čase druhé světové války. Praha: Kalich, 2003, 143f.

[2] Zeitschrift „Křesťanská revue“. 1946, 13, 12ff.

[3] NA ČR, Bestand Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien, Karton 25, Buchstabe S2, Mappe: Synodalrat der Böhmischen Brüderkirche, MEMORANDUM des Konventes des Königgrätzer Seniorats der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder vom 1. 11. 1945.

[4] ÚA ČCE, Archivbestand SR. [deutsche Übersetzung zitiert nach: Hartmut Rudolph, Evangelische Kirche und Vertriebene 1945 bis 1972, Bd. I: Kirchen ohne Land, Vandenhoeck & Ruprecht 1984. Anm. d. Übers.]

[5] Ebd.

[6] In dieser Zeit setzte er sich aus dem Akademischen YMCA und der Zentrale der tschechoslowakischen evangelischen Akademiker zusammen.

[7] Křesťanská revue. 1947, 14, 120f.

[8] ÚA ČCE, Archivbestand SR.